Vincent Voss - 101112
Vincent Voss
101112
Diese Geschichte ist frei erfunden worden. Reale Akteure
aus jener Zeit waren weder Priester des Cazimi-Kults, noch waren sie an den
Ursachen beteiligt, die zu den Ereignissen im Jahre 2012 führen sollten. Dafür
würde ich fast meine Hand ins Feuer legen …
„Das Dämonische ist das
Verschlossene und das unfreiwillig Offenbare“
Soeren Kierkegaard
10
„Das war der Wunsch Ihres
Großvaters.“ Stoisch hielt der Notar den Teller mit den beiden Plätzchen als
Angebot vor sie. Levin und Sybille sahen sich an.
„Er war schon ein Kauz, oder?“
Levin nahm einen der beiden gezackten Kekse, Sybille zuckte die Schultern und
griff sich den anderen.
„Gut“ sagte der Notar, stellte
den Teller weg, nickte der Beisitzerin Frau Wollgast zu und suchte auf seinem
Sekretär nach etwas. Levin schmunzelte, während er den Keks kaute. Allein das
Notariat hätte nicht besser passen können. Zwei Zimmer im Hinterhof einer
Seitengasse, keine Klingel aber einen Türklopfer und ein Notar, der aussah, als
würde er im vorletzten Jahrhundert leben. Ebenso das Interieur, welches schwer
und wuchtig das spärlich einfallende Licht aufsog.
„Ihr Großvater hat ihnen eine
Videoaufzeichnung hinterlassen. Auf dieser spricht er einige Worte über das
Testament zu ihnen. Es dauert nicht lang.“ Der Notar schob die Kassette in
einen Rekorder und stellte den Röhrenfernseher ein, der sie aus einer
Fernsehvitrine anstarrte.
Balthasar, wie er in seinem Stuhl saß und in
die Kamera schaute. Das hohe Alter wollte ihn beugen, aber er ließ es nicht zu.
„Levin!“ Seine Ansprache glich
einem Kommando. „Ich
weiß nicht, wie lange mir noch bleibt, deshalb habe ich mich entschlossen, dir
zu meinem Testament ein paar Worte mitzugeben.
Erstens: Du wirst ein positives Vermögen erben.
Damit meine ich, dass keine Schulden, die du zu begleichen hättest, sich in
meiner Hinterlassenschaft befinden. Zweitens: Ich wünschte mir, ich hätte dir
mehr vertrauen können, um dich auf deine Zukunft vorzubereiten.“ Balthasar sah
an der Kamera vorbei und überlegte. „Aber diesen dir vorbestimmten
Weg wirst du nun alleine gehen. Wir sind bei dir.“ Er beugte sich vor und die
Aufnahme erlosch, als er die Kamera ausschaltete.
Levin sah fragenden Blickes zum Notar, der in
einem Gemälde, welches einen nebelverhangenen Vulkangipfel zeigte, versunken
war und nur langsam in diese Welt zurück fand.
„Ja, ja. Das war es“, sagte der
Notar mit gedehnten Pausen zwischen den wenigen Worten. Er schlug einen Ordner
auf, setzte sich eine Brille auf seine Nase und sie begannen das Testament
formal abzuarbeiten. Levin trat nach kurzer Überlegung das Erbe seines
Großvaters an.
„Komisch, die sehen nicht
wirklich stolz oder so aus.“
„Zeig mal.“ Sybille streckte
ihren Arm nach dem Foto aus, er rückte auf dem Sofa näher und gab es ihr. Sie
hielt das Bild in den Schein der Leselampe und betrachtete es.
„Stimmt. Nicht so, wie man sich
das nach einer Expedition so vorstellt. Aber alle, oder? Wer ist denn der
Bruder deines Großvaters?“
Er deutete auf einen Mann, der ganz links
stand.
„Der? Der sieht nicht so aus,
als hätte er Spaß gehabt.“
Levin nickte.
„Er
hat sich später auch umgebracht.“
Sybille stutzte. Das hatte ihr Mann nie
erzählt. „Entschuldigung,
das wusste ich nicht.“
„Ich hab es auch nie erwähnt.
Kurz nach der Expedition ist Vincent zu seinem älteren Bruder, meinem Großvater
Balthasar, nach Berlin gezogen. 1931 hat er sich dort erschossen.“
„Das tut mir wirklich leid“,
bedauerte sie ihn. Gerade in dieser Zeit. Levin´s Großvater war vor zwei Wochen
im hohen Alter gestorben, sein Vater war bei einer Geschäftsreise in
Argentinien umgekommen, als Levin ein Jugendlicher war. Sie fand, Levin hätte
eine Pause vor Schicksalsschlägen verdient gehabt.
Er zuckte mit den Schultern, nahm das Bild
wieder zu sich und betrachtete es. 11 Männer, im Hintergrund ein großer Berg,
Palmenzweige ragten hinter den Männern ins Bild. Sein Großonkel und weitere
jüngere Männer standen jeweils am Rand der Gruppe. Sie trugen Tropenkleidung
und waren behelmt. In der Mitte stand ein Mann, strenger Seitenscheitel, mit
einem schwarzen Pudel auf dem Arm. Vor ihnen Expeditionsutensilien drapiert.
Sein Großonkel und seine Begleiter sahen auf dem grobkörnigen Foto bedrückt,
fast ängstlich aus. Levin drehte das Foto um.
„Gunung Agung, 11.02.1931 mit
Meister Spies“, stand dort in geschwungener Schrift auf dem angegilbten Rücken.
Er stieß Luft aus, schlug mit dem Foto auf
seinen Oberschenkel und dachte nach.
„Ich werde die Sachen von Opa
noch nicht wegwerfen, sondern noch mal durchsehen.“ Eine Entscheidung, die ihre
Zukunft stark beeinflussen würde.
Sybille war joggen, Levin saß wegen der sommerlichen
Schwüle bei offener Terrassentür im Wohnzimmer und sortierte die restlichen
Sachen aus dem Nachlass seines Großvaters. Ein Korb mit Briefen, Dokumenten,
Karten und eine verschlossene Seemannskiste. Er schob den Korb beiseite und zog
die Holzkiste zu sich. Sie war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Levin hob
sie an und schüttelte sie. Kein verräterischer Laut war zu hören und der Inhalt
war nicht allzu schwer. Er stellte die Kiste wieder ab und bearbeitete das
Schloss mit Hammer und Stemmeisen. Das Schloss schien stabiler als die Kiste
selbst. Am Deckel schlug er mit kräftigen Schlägen die Halterung heraus. Die
Schwüle ließ ihn schwitzen. Stemmeisen und Hammer legte er zurück in die
Werkzeugkiste und hob den Deckel an. Goldene Seide lag obenauf. Er nahm den
Stoff heraus und breitete ihn aus. Ein Umhang mit Kapuze, der Stoff fühlte sich
edel und kühl an und glänzte golden. Auf die Rückseite war ein, nun ja, Wesen
gestickt, das im Entferntesten an einen Drachen erinnerte. Levin hielt den
Umhang wie zur Anprobe vor sich, der Länge nach würde er ihm passen, aber er
wagte nicht, ihn anzuziehen.
Begründen konnte er diese Haltung nicht. Er
faltete den Umhang zusammen und legte ihn zurück in die Kiste.
Darunter lagen zwei unterschiedlich große
Schatullen. In der einen fand Levin einen Dolch mit gekrümmter und gewellter
Klinge, in der anderen eine Kette mit einem elfzackigen Stern.
Der Anhänger war vermutlich aus Holz oder
Knochen. Ein Buch lag auf dem Boden der Truhe, A4-Format mit einem noblen,
bordeauxroten Ledereinband. In goldenen Lettern prangte das Wort „Cazimi“ auf
dem Umschlag. Sonderbare Dinge, die Levin im Nachlass seines Großvaters fand,
er fühlte sich, als wäre er einem Geheimnis auf der Spur. Er nahm das Buch in
seine Hände, es war kalt und schwer. Levin strich über das Leder, schlug die
erste Seite auf und erschrak. Oben rechts stand ein Datum. 1709. Und mit
gleicher Schrift und scheinbar gleicher Tinte bestand das erste Wort aus einer
Anrede. Levin, stand dort. Sein Name. Er schluckte trocken.
1709
Levin.
Wenn du diese Zeilen liest, werden 301 Jahre vergangen sein
und deine Welt wird anders aussehen als meine. Und beide haben wir zum Ziel,
diese Welt gänzlich anders aussehen zu lassen, wie wir sie derzeitig kennen.
Sofern dein Großvater Balthasar sich an alle Anweisungen gehalten hat, weißt du
nichts von einem gleichlautenden Ziel, noch weißt du, was Cazimi bedeutet. Es
ist auch einerlei, denn du trägst deine Bestimmung in deinem Blut, wie auch ich
meine in meinem Blute trage.
Levin, du bist der Zehntgeborene und dir ist eine Aufgabe
zugeordnet, die an Größe und Bedeutung unübertrefflich ist. Ich wünschte, ich
wäre an deiner statt, doch du bist es, der zu Ende führt und neu beginnt. Lies
das Buch sorgfältig und achte auf die Zeichen, die dir erscheinen werden. Dann
wirst du die Bedeutung Cazimis ermessen können und stolz darauf sein, jenen
Samen in dir zu tragen, den SIE ergossen haben. Bald schon wirst du eine lange
Reise über große Wasser antreten müssen. Übe dich und lerne das geschrieben
Wort, Samen meines Samens.
Bartholomäus
Die folgenden Seiten bestanden, auch wenn Levin keine
Erfahrung im Lesen ähnlicher Literatur hatte, aus Zauberformeln. Es ging um Sternenkonstellationen
und um ein Hendekagon, welches den Mittelpunkt des jeweiligen Zaubers bildete.
Die freien Flächen des Elfecks sollten jeweils unterschiedlich beschriftet oder
gefüllt sein. Levin schlug das Buch zu, sah aus dem Wohnzimmerfenster in seinen
überreifen, schwülen Garten und ordnete seine Gedanken und Gefühle. Das konnte
nicht echt sein, irgendwer erlaubte sich einen Scherz mit ihm, wahrscheinlich
sein Großvater, den er immer schon für einen sonderbaren Kauz gehalten hatte.
Er schlug das Buch wieder auf und ließ die erste Seite auf sich wirken. Levin.
1709. Sein Urahn Bartholomäus wusste demnach vor 300 Jahren von Levins Existenz
und von einem Plan, der für ihn bestimmt war. Levin hatte nicht vor, ihn zum
Gelingen zu bringen.
11
Levin verdrängte den Gedanken an seine Bestimmung ebenso
erfolgreich, wie er die Körbe mit Schriftstücken und die Semmannskiste im
Keller in der hintersten Ecke des Abstellraumes verstaute. Aus den Augen aus
dem Sinn, diese Strategie hatte er schon nach dem Tod seines Vaters angewandt.
Und dort hätte der Nachlass mit all seinen sonderbaren Gegenständen in
Vergessenheit geraten können, wäre Sybille nicht einige Zeit später mit einem
Hinweis von der Arbeit gekommen. Gemeinsam saßen sie beim Abendbrot, Levin
hatte neben seinem Teller die aufgeschlagene Tageszeitung liegen und Sybille
blätterte in einem Magazin. Und erinnerte sich beim Betrachten eines Bildes.
„Omph!“, sagte sie und wedelte
mit der Hand, der Gedanke war ihr so wichtig erschienen, dass sie das Kauen
vergessen hatte. Sie schluckte und sah zu Levin, der sie interessiert
beobachtete.
„Auf der Rückfahrt habe ich auf
Deutschlandfunk eine Reportage über einen Künstler gehört, der auf Bali lebte.
Walter Spies.“
Levin verstand nicht, was sie ihm damit sagen
wollte. Er schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern.
„Spies. Meister Spies. Das
Foto!“, ergänzte sie.
Erinnerungen krochen wie Schatten hervor und
beunruhigten ihn. 1709. Levin.
„Ah, ja, jetzt hab ich‘s“,
erwiderte er eine Spur zu beiläufig. Sybille registrierte es, überging seine
ausweichende Reaktion jedoch.
„Das war wahrscheinlich der
Künstler. Eine Berühmtheit, wenn man sich für Kunst interessiert.“
„Nie gehört.“ Levin wollte das
Gespräch beenden, hob seine Zeitung an, um ihr zu signalisieren, dass er eigentlich
lesen wollte.
„Hast du das Foto noch? Dann
können wir mal nachschauen. Mit Charlie Chaplin war er befreundet, der hat ihn
häufig auf Bali besucht.“
„Nein, keine Ahnung, wo das Foto
ist. Ich habe alle Sachen in den Keller gebracht.“ Er vergrub sein Gesicht
hinter der Zeitung.
Sybille wunderte sich über das Verhalten ihres
Mannes und deutete seine Reaktion folgenschwer falsch.
Seit über zehn Tagen war es unerträglich schwül und heute
schienen alle zu spüren, dass es ein Ende hatte. Bedrohlich türmten sich kurz
vor Feierabend die Wolken am Himmel auf und durch die seit Tagen nutzlos
geöffneten Bürofenster brauste ein kräftiger Wind, so dass sie wegen des
Durchzugs geschlossen werden mussten. Levin verabschiedete sich von seinen
Kollegen, die im Konferenzraum vor dem Fernseher des Anschlags gedachten. Schon
zehn Jahre her, schoss es Levin durch den Kopf.
„Mann, das wird was geben“, rief
ihm ein Mann am Ausgang zu, der sich vor einer Windböe wegdrehte. Levin
schaffte es noch gerade rechtzeitig nach Hause. Kurz nachdem er die Tür hinter
sich geschlossen hatte, zuckten Blitze senkrecht vom Himmel und selbst die
kräftige Kastanie an der Grenze zum Garten seines Nachbarn wurde von dem Sturm
hin und her geschüttelt. Beindruckt stand er am Verandafenster und sah dem
Spektakel zu. Hoffentlich würde es nachlassen, wenn Sybille vom Sport kam.
Sybille. Er ging zum Telefon und sah nach, ob Sybille ihm eine Nachricht
hinterlassen hatte. Zwei Rechnungen mit der Post und eine Klemmmappe von ihr.
Verwundert schlug er sie auf. „Walter Spies“ stand dort, sowie ein
Schwarz-Weiß-Foto eines charismatischen Mannes, der mit überkreuzten Beinen auf
einem Stuhl saß und einen Pudel streichelte.
Ein gelber Klebezettel war neben das Foto
geklebt. „Dein Großonkel war mit einer Berühmtheit auf einer Expedition. Wenn
du es nicht spannend findest, bin ich dir nicht böse. Ansonsten habe ich ein
paar Infos für dich. Rasier dich!“ Levin war hin und her gerissen. Er wollte
das sonderbare Buch namens Cazimi mit der prophetischen Ansprache vergessen,
andererseits weckte es auch seine Neugier. Und Sybilles offenbar auch. Rasier
dich. Er schmunzelte. Mittwoch war immer ihr Sport-Tag und häufig (eigentlich
immer) hatten sie Sex an diesem Abend. „Rasier dich“ war eine eindeutige
Anspielung und Lust wallte in ihm auf. Er nahm die Mappe mit zu seinem Sessel
und beschloss, sie durchzusehen, sich zu rasieren und den Abend prickelnd
ausklingen zu lassen.
Eine Stunde später stand er im Keller und suchte in den
Körben nach dem Foto. In der Tat war Walter Spies ein bedeutender Künstler und
unglaublich vielseitig gewesen. Spies hatte gemalt, war Kapellmeister und hatte
die traditionellen balinesischen Kecak-Tänze neu choreographiert und bekannt
gemacht. Und mit wem er alles verkehrt hatte, war beeindruckend. Mit Charlie
Chaplin, Friedrich Wilhelm Murnau, dem Regisseur des ersten Nosferatu-Films mit
Max Schreck in der Hauptrolle, der großen Anthropologin Margareth Mead und der
Schriftstellerin Vicky Baum. Von seinem Großvater Balthasar wusste er, dass
auch er in dieser Zeit ein-, zweimal auf Bali gewesen war und wahrscheinlich
sogar Walter Spies gekannt hatte. Aber erwähnt hatte er ihn nie. Levin stellte
sich das Leben dort vor, eine Hütte mit Ausblick auf den heiligen Vulkan Gunung
Agung mitten in den Reisterrassen an der Grenze zum Dschungel, drückende
Schwüle und eine illustre Gesellschaft mit bauchigen Cognac-Schwenkern in den
Händen. Mit Zeige- und Mittelfinger blätterte er in den alten Briefen und
Karten auf der Suche nach dem Expeditionsfoto. Oder hatte er es in die Kiste
gelegt? Sein mangelndes Erinnerungsvermögen begründete er mit seinem
Expertenwissen im Verdrängen. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Ein Donner
rollte heran und er beschloss, in der Kiste nachzuschauen.
Er nahm den Umhang heraus, legte ihn beiseite. Den Dolch
klemmte er unter seinen Arm, den Anhänger, das Buch, nichts. Er legte das Buch
zurück, den Dolch in die Schatulle und dann in die Kiste, den Anhänger …
ließ er durch seine Hände gleiten. Eben und glatt. Handschmeichelnd, hatte er
einmal auf einer Holzmesse gehört. Das Material war so geschliffen, dass es
sich handschmeichelnd anfühlte. Er hielt sich den Anhänger vor das Gesicht und
betrachtete ihn. Elf Zacken, Elfter September. Er schmunzelte, dennoch wurde
ihm sonderbar schwindelig bei diesem Gedanken. Aus irgendeiner
Verschwörungstheorie erinnerte er sich, dass es vom 11ten September an noch 111
Tage bis zum Jahresende dauern würde.
Er konnte aus Holz aber auch aus Knochen sein.
Elfenbein vielleicht. Der Anhänger hing an einer Lederkette. Mit beiden Händen
zog er sie auseinander, zögerte und legte sich die Kette um. Der Anhänger lag
auf seiner Brust und fühlte sich wie angegossen an. Ihm zugehörig. Er betastete
ihn sanft und richtete sich auf. Ein Teil von ihm wunderte sich über sein
Verhalten, aber offenbar verdrängte er nun diesen Teil in den Abstellraum
seines Unterbewusstseins. Er faltete den Umhang auseinander und zog ihn über.
Den Dolch und zuletzt das Buch. Er lachte auf. Damals hatte er sich bei seinem
Freund, Torben, in dem Schlafzimmer von Torbens Eltern verkleidet. Torben
musste ihm helfen, den BH zu schließen und glucksend waren sie in hochhackigen
Schuhen mit federbeschmückten Hüten auf und ab gegangen. Hatten sich geschämt,
aber auch Spaß gehabt. Ähnlich fühlte er sich in dem goldenen Umhang, mit dem
Buch, dem Dolch und dem Anhänger. Wie ein Fetischist. Er lachte erneut. Er
legte das Buch und den Dolch zurück, zog den Umhang aus, verstaute ihn in
ebenso, aber den Anhänger wollte er nicht ablegen. Er fühlte sich mit ihm verbunden.
Das Gewitter ließ nach. Levin hatte alle Fenster des
Hauses geöffnet, einige Kerzen angezündet und lag im Lesesessel als Sybille die
Tür öffnete.
„Was für ein Unwetter!“, hörte
er sie im Flur sagen.
„Du hast Glück gehabt“,
antwortete er, legte das Buch auf den Beistelltisch und erwartete sie. Sie ging
zu ihm, küsste ihn auf die Stirn, wollte ihre Sporttasche im Badezimmer
ausräumen und verharrte.
„Du hast sie ja gefunden.“ Sie
war überrascht, das Expeditionsfoto zu sehen. Er nickte.
„Im Keller. Bei den ganzen
Briefen. Die werde ich mir im Übrigen mal ansehen. Das Ganze ist schon
spannend. Walter Spies. Ich hab gelesen, was du alles über ihn herausgefunden
hast.“
„Ja, oder?“ Sie freute sich über
sein Interesse, über ihr gemeinsames Interesse.
„Ich bring kurz die Sachen weg.“
Sie strich ihm über die Wange. „Oh, du bist ja rasiert.“, stellte sie keck fest
und lächelte.
Sie hatte sich über den Anhänger gewundert, aber nicht
beschwert. Zusammen kuschelten sie auf dem Lesesessel, bis ihre Begierde sie ins
Schlafzimmer trieb, wo sie sich unter leidenschaftlichen Küssen gegenseitig
auszogen.
„Das sieht scharf aus. Du, nur
mit der Kette“, flüsterte sie ihm ins Ohr, biss ihm ins Ohrläppchen und
massierte seinen Schwanz.
„Ja, findest du?“, fragte er
kehlig und mit sich selbst beschäftigt. Lust kannte er wohl und sich in Liebe
und Lust fallen zu lassen war kein Problem für ihn, aber heute würde er sich
beherrschen müssen. Nicht, dass er zu früh kommen würde, das würde Sybille ihm
verzeihen, eher, dass er sich kontrollieren musste. Wenn er seine Augen
schloss, sah er Flammen, roch und hörte Feuer und spürte Hitze auf seiner Haut,
zwischen seinen Beinen. Er warf Sybille auf den Rücken, beugte sich über sie
(FLAMMEN) und drang in sie ein. Sie stöhnte auf, öffnete den Mund, um aus ihrem
Erstaunen eine Frage zu formen, aber ihr Verlangen und das Empfinden brachten
nur einen lustvollen Schrei hervor. Er fühlte sich heiß in ihr an, sein Körper
war hart, durchtrainiert und wie er den Kopf in die Höhe reckte, die Muskeln
seiner abstützenden Arme hervortraten, war er dominant und sie unterwarf sich
ihm. Rhythmisch stieß er zu, Flammen leckten an seinen Armen und an seinem
Brustkorb entlang, der Anhänger an seiner Brust strahlte eine Hitze und eine
Kraft aus, die er nicht kannte, die ihn speiste und vorwärts trieb. Trommeln,
er hörte Trommeln und metallene Glockenschläge, Gesang, der Geruch von Rauch
und Eisen drang zu ihm durch. Er stieß energischer zu. Sybille schrie auf,
presste ihre Hand auf den Mund. Er schrie und öffnete die Augen. Das Bett stand
in Flammen, Sybille lag glutrot vor ihm ausgebreitet, Trommeln schlugen und aus
den Wänden schälten sich mit archaischen Lauten Wesen, fremdartige
Physiognomien und Körperteile hervor, die so nah, so bedrohlich wirkten, dass er
in Panik geriet, aber nicht aufhören konnte. Sein Herz hämmerte, sein Schweiß
verdampfte augenblicklich, er wollte etwas sagen, aber die Laute, die Sprache
klang zu fremdartig. Die Wände mit den darin gefangenen Wesen rückten näher,
sahen zu und dunkle Triebe wurden in ihnen geweckt. Levin brüllte und rammte
seinen Unterkörper vor. Er nahm Sybilles Beine hoch, beschleunigte seine Stöße
und mit einem gemeinsamen Schrei erlösten sie sich und fielen zusammen.
Lange lagen sie neben- und aufeinander, schwiegen. Sybille
hatten noch nie solche Gefühle beim Sex empfunden, Levin hatte noch nie so
realistische Träume gehabt. Es war ihm unangenehm, sein Verhalten, die Bilder,
die er gesehen hatte, seine … Haltung. Wie ein brutaler Vergewaltiger.
Erschöpft legte er eine Hand auf den Anhänger, entschlossen ihn als Ursache
dieses Zustands zu entfernen, doch seine Hand blieb dort liegen und sein
Entschluss verflüchtigte sich. Sie schliefen ein.
Zwei Wochen später
Er hatte die dritte Kamera ausprobiert, erfolglos. Und er
wusste nicht, woran es lag. Er nahm das Telefon und wählte Franks Nummer.
„Hi, ich bin‘s,
Levin. Also ich hab das jetzt mit dem Stativ probiert, trotzdem gelingt es
nicht.“ Levin sah sich seine Konstruktion noch einmal an. Das Expeditionsfoto
auf einem grauen Untergrund (schwarz, weiß und beige hatte er auch schon
versucht), das Stativ so aufgestellt, dass die Kamera direkt über dem Foto
fixiert war und als Bildausschnitt nur das Foto zuließ. Und dennoch, jedes Mal
war das geschossene Bild so dunkel, dass es unkenntlich war. Ein
professionelles Repro-Verfahren war einschlägigen Internetforen nach die letzte
Möglichkeit, zumal sich das Bild auch nicht sauber einscannen oder kopieren
ließ. Und Frank war Fotograf.
„Hör zu Levin, ich hab jetzt
langsam auch keinen Rat mehr. Ich geh noch mal alles durch, ja?“
„Ja, in Ordnung, mach das.“
„Normale Fotos gelingen nicht,
Scannen und Bildbearbeitung auch nicht. Bei den Repros, wie hast du da
beleuchtet?“
„Wie du gesagt hast, Frank.
Tagesbeleuchtung, aber Gardinen zugezogen. Zwei Lampen im 45C°-Winkel. Trotzdem
ist alles dunkel.“ Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Weißt du was, Levin. Das hört
sich ja vielleicht albern an, aber vielleicht will dieses Foto nicht
reproduziert werden. Ich hab keine Ahnung mehr. Geh sonst in ein
professionelles Studio, die auch Kameraequipment verleihen und frag die. Tut
mir leid.“
„Ist schon okay. Danke schön.“
Levin legte auf und sinnierte. Vielleicht will das Foto nicht reproduziert
werden. Darüber musste er nachdenken.
12Mitte April 2012
Levin saß am Küchentisch, eine Tasse Erkältungstee stand
vor ihm und er konzentrierte sich auf die altertümliche Schrift und die Symbole
in dem Buch. Cazimi, Herz der Sonne. Und offensichtlich spielte die Zahl 11 und
das Jahr 2012 eine größere Rolle in der Kosmologie dieses Geheimbundes, dessen
Mitglied er per Erbfolge zu sein schien. Durch einen Infekt angeschlagen war er
zuhause geblieben und ging den ganzen Papierkram seines Großvaters durch. Und
das Buch, aus dem er nicht schlau wurde, das ihn aber faszinierte. Er legte es
beiseite und nahm sich einen weiteren Papierstapel vor.
Sein Großvater hatte im Laufe der Zeit mehrere
Reisen nach Bali unternommen. Überhaupt war er sehr viel gereist und sämtliche
Verbindungen, Schiffspassagen und Flugtickets zumindest, hatte er aufbewahrt.
Auf Bali hatte er auch Walter Spies getroffen. In ihrer schriftlichen
Konversation tauschten sie sich oberflächlich über Kunst aus und benannten
Termine, zu denen sein Großvater dann die Schiffspassagen buchte. Bis zum Tode
Walter Spies 1942. Aber auch danach war Balthasar noch einmal in Bali. 1963 für
drei Monate.
Zu seinem Sohn Egmont, also Levins Vater,
pflegte er keinen Kontakt. Briefe an Freunde oder an seinen Bruder Vincent
hatte er in seinem Schriftverkehr abgelegt. An und von Egmont fand er keinen
einzigen. Beiläufig blätterte er durch die weiteren Reiseunterlagen seines
Großvaters, dann stutzte er. 1991 war sein Großvater erneut zu einer längeren
Reise aufgebrochen. Im Juni war er nach Cordoba geflogen und den ganzen
spanisch verfassten Belegen nach hatte er von dort im hohen Alter von 79 Jahren
an einer Expedition zum Ojos del Salado, dem höchsten Vulkan Südamerikas
teilgenommen. Am 13. Juli 1991 war er zurück nach Berlin geflogen. Am 10. Juli
war Levins Vater Egmont auf einer Geschäftsreise in Argentinien verschwunden,
am 12. Juli hatte man Überreste
seiner Leiche gefunden. In Cordoba. Mit den genaueren Erinnerungen setzte der
Schock ein, Levin wurde heiß und kalt zugleich. Er hörte Trommeln, der Geruch
von Rauch und Eisen lag in der Luft, ihm wurde schwindelig. Das Telefon
klingelte. Schwankend stand er auf und ging an den Apparat.
„Ja?“, stöhnte er in den Hörer.
„Levin!“, es war Sybille, er
stützte sich mit einer Hand an der Wand ab.
„Wir bekommen ein Baby!“, hörte
er Sybille durch das Telefon rufen und an das restliche Gespräch und den
restlichen Tag konnte er sich nicht mehr genau erinnern. Nur an die Trommeln
und den Rauch.
Es war nicht so, dass sie völlig unvorbereitet waren. Das
Gästezimmer war schnell leer geräumt, neu gestrichen und einem Kinderzimmer
gewichen. Während Sybille in den Vorbereitungen auf ein neues, anstehendes
Leben in ihrer Mitte aufging, lebte Levin in zwei Welten. Er bemühte sich,
Sybille so gut es ging zu unterstützen, er bemühte sich auch, sich auf das
Familienleben zu freuen und meldete sich mit zu einem Geburtsvorbereitungskurs
an. In den Nächten aber wurde er von Träumen und Gedanken heimgesucht, die
nicht seine waren und in der Zeit, die ihm vor dem Schlafengehen blieb, recherchierte
er. Den Nachlass seines Großvaters hatte er komplett durchgesehen und wie ein
Kainsmal hatte er den Briefverkehr und sämtliche Reiseverbindungen seines
Großvaters zu einem Stapel zusammengeführt. Egmont, sein Vater, hatte
Balthasar, seinen Großvater, in Argentinien kurz vor seinem Tod getroffen und
Balthasar hatte ihm nie davon berichtet. Warum? Die Mutmaßungen, sein Großvater
könne am Tode seines Vaters beteiligt gewesen sein, nagten an ihm und
zermürbten ihn. Doch was ihn wirklich zerfraß, war der Umstand, dass er
schleichend Verständnis dafür aufbrachte und es sogar guthieß. Immer, wenn
Stimmen in fremder Sprache in ihm flüsterten, immer, wenn er im Keller die
Kutte Cazimis trug, den Dolch in den Händen hielt und aus dem Buch rezitierte.
Immer dann verstand er, nein, sah er den Weg, der ihm und seinen Ahnen bestimmt
war. Zwar undeutlich, aber doch genau genug, um ihm folgen zu können. Levin
bekam Angst vor sich und die Angst trieb ihn an, schneller und tiefer zu
forschen.
Mittlerweile hatte er über ein Antiquariat die
Gewissheit in Form eines Gutachtens, dass das Buch und die verwendete Tinte
tatsächlich dem angegebenen Datum entsprachen. Aber was war das Ziel Cazimis?
Levin sah in seinen Notizblock und dachte nach. Es klingelte an der Tür und er
schreckte hoch.
„Lass mal, ich bin schon da.“
Sybille eilte an ihm zur Haustür vorbei. Er lauschte kurz den Stimmen im Flur
und ließ sich wieder von seinen Gedanken einfangen. Warum Bali? Warum
Argentinien? Warum Vulkane? Sowohl der Ojos del Salado, wie auch der Gunung
Agung waren beides Vulkane. Sah er in seinen Träumen deshalb die Flammen?
„… das kommt?“ Sybille
stand vor ihm und wedelte mit einem Brief herum. Langsam wuchs ihr Bauch,
bemerkte er und wünschte sich nichts sehnlicher als Normalität.
„Was meinst du? Entschuldigung,
ich war in Gedanken versunken?“ Sie sah ihn einen Augenblick zu lange an und
Levin wusste, dass Sybille sich Sorgen um ihn machte.
„Das Einschreiben. Hast du einen
Ahnung, von wem das kommt?“
„Zeig mal.“ Sybille reichte ihm
einen Umschlag, auf dem kein Absender angegeben war.
„Du hättest es verweigern
können“, sagte er, während er den Umschlag öffnete. Rauch. Es roch nach Rauch.
Er verharrte und sah zu Sybille.
„Was ist?“, fragte sie und
nickte zum Umschlag. Sie hatte nichts gerochen. Es war sein Rauch, der Rauch in
seinem Kopf. Er zog einen kleineren Umschlag heraus und einen
zusammengefalteten Zettel. „Reisebüro am Mexikoplatz“ war auf dem kleineren
Umschlag zu lesen und er zog die einzelnen Pappkarten heraus. Tickets.
Flugtickets nach Denpasar/Bali für zwei Personen. Sieben Übernachtungen,
„Honeymoon-Package“ im „Walter-Spies-Haus“ in Ubud auf Bali. Reiseantritt 14.
Dezember 2012. Sybille und Levin sahen sich an, Sybille schüttelte überrascht
und fragend den Kopf. Levin nahm den Zettel und las ihn laut vor.
„Levin,
es ist mir ein
Herzenswunsch, euch beiden eine schöne Zeit auf Bali zu schenken. Mir hat diese
Insel sehr viel bedeutet und vielleicht
weiß sie auch euch mit ihrem geheimnisvollen Charme zu vereinnahmen. Ich
jedenfalls habe dort so manches Rätsel meines Lebens lösen können, vielleicht
hilft es auch dir, Levin.
Da ich wahrscheinlich
nicht mehr unter euch weilen werde, wenn euch diese Post erreicht und ich nicht
weiß, ob ihr euch in anderen Umständen befindet: Lasst euch wegen des Fluges
gut beraten, leider können keine Umbuchungen vorgenommen werden. Das
Walter-Spies-Haus ist auf Jahre ausgebucht.
Mit Sonne im Herzen,
Balthasar, dein Großvater“
„Ich weiß nicht, was ich sagen
soll.“ Sybille sammelte sich als erste, nahm den kleinen Katalog des
Walter-Spies-Hauses in die Hand und blätterte in ihm herum. Levin schwieg. Die
Botschaft seines Großvaters war klar und deutlich. Auf Bali würde er das
Geheimnis lösen können. Wollte er das? Und woher wusste er, dass Sybille schwanger
war? Samen meines Samens. Rauch, Feuer, Trommeln und tanzende Fratzen,
gesichtslose Leiber, die sich aneinander schmiegten, Tentakeln, Flügel, Zähne,
Augen.
„Levin?!“, schrie Sybille ihn an
und er kam zurück.
„Entschuldigung, ich war kurz,
irgendwie …“, er lächelte sie an. „Mit euch beiden auf Bali. Schön sieht
es dort aus“, sagte er, ohne einen Blick in den Katalog geworfen zu haben und
streichelte ihren Bauch. Sie küsste ihn auf die Stirn und stellte sich so vor
ihn, dass er seinen Kopf anlegen konnte. Er umarmte sie und sah in den Katalog.
Reisterrassen, ein See, wie ein dunkler Spiegel und der geheimnisvolle Vulkan
mit wolkenverhangenem Gipfel, umrahmt von der dunkelgrünen Üppigkeit eines
Dschungels.„Ich freu mich schon darauf“, sagte Levin und sah zu
ihr hoch.
„Warten wir es ab. Wir sollten
einmal zusammen zu Dr. Günther und ihn fragen, ob wir so spät in der
Schwangerschaft noch fliegen können.“ Er nickte und fand, dass ihr Bauch, wie
der Gipfel des Gunung Agungs hervorstach.
Letzter Sonntag im April
Ein Ausflug zu einem Antik-Flohmarkt in den
Hermann-Hallen. Es war eher Sybilles Wunsch, Levin hätte bei der Kälte auch
gerne zuhause (im Keller die Formel des
zehnten Kreises rezitiert) im Sessel gesessen und gelesen. Er musste
einsehen, dass ihm ein wenig Ablenkung ganz gut tat, zumindest sorgte sie
dafür, dass die fremdartigen Eindrücke fernblieben.In der zweiten Etage
schritten sie auf der Galerie an den Ständen entlang. Alte Bücher, alte Kleider
und antike Kleinkunstgegenstände reihten sich aneinander und Levin hatte einige
Meter von ihnen entfernt einen Stand mit alten Grammophonen ausgemacht, der ihn
interessierte.
„Sybille?“ Eine Frau unter einer
russischen Pelzmütze versperrte ihnen den Weg und breitete freudestrahlend ihre
Arme aus.
„Ulli?“, Sybille und die
Pelzmütze kannten einander offenbar, Levin sah die Frau zum ersten Mal und
schätzte, dass es eine alte Schulfreundin war.
„Was machst du denn hier?“,
fragte Sybille.
„Du, ich wohn jetzt hier. Seit
Januar.“
„Ehrlich? Erzähl, wie kommt das
denn? Du warst doch in Leipzig, oder? Oh, ‘tschuldigung,
das ist übrigens mein Mann Levin. Levin, das ist Ulli, wir sind zusammen zur
Schule gegangen.“
„Zusammen zur Schule gegangen.
Bille war meine beste Freundin bis zum Abi.“ Levin erinnerte sich. Von Ulli hatte
er gehört.
„Du, Sybille, ich such mal eine
Toilette und hol mir einen Kaffee. Ihr bleibt sicherlich noch eine Zeit lang
hier, oder?“, fragte er. Sybille sah ihn erst etwas enttäuscht, dann aber immer
zufriedener an. Sie nickte.
„Wir können ja telefonieren.
Kann bei uns beiden bestimmt länger werden“, antwortete sie.
„Das hab ich mir gedacht. Ciao,
war nett Sie, also äh, dich kennengelernt zu haben.“ Levin hob die Hand zum
Abschied und fädelte sich eilig in die Besucherschlange ein.
Vor einiger Zeit hätte er bei seiner Frau
gestanden und sich mit ihrer besten Schulfreundin unterhalten. Er wäre ein
angenehmer Gesprächspartner gewesen, aber seine derzeitige Verfassung ließ es
nicht zu. Er war zu zerstreut. Er entdeckte einen WC-Wegweiser und folgte der Beschilderung.
Er ging die Treppen hinunter an einem Kiosk vorbei und wurde plötzlich
festgehalten. Eine ältere Frau. Eine Sonnenbrille verbarg einen großen Teil
ihres Gesichts, der Schirm ihrer Strickmütze einen weiteren. Diese Frau wollte
nicht erkannt werden, schoss es Levin durch den Kopf.
„Levin, ich muss mit dir reden“,
sagte sie und sah sich nach links und rechts um.
„Entschuldigen sie, aber wer
sind sie?“
„Eine Freundin deines Vaters“,
antwortete sie knapp, ging zwei Schritte seitwärts und stand mit dem Rücken zu
einer Säule, von der aus sie den Eingang gut beobachten konnte.
„Eine Freundin meines Vaters?“,
wiederholte Levin und sann den Worten nach.
„Und was wollen Sie von mir?“, ergriff
er wieder die Initiative und ordnete die rasenden Gedanken und Fragen in seinem
Kopf.
„Ich will dich warnen, Levin.
Egmont hatte es so gewollt. Und er hatte es kommen sehen. Er hatte recht
gehabt. Lass uns kurz rausgehen, bitte.“ Sie drehte sich um und ging in
Richtung Ausgang. Levin zögerte erst, aber folgte ihr dann.
Draußen bog sie um die Ecke der Hermann-Fabrik
und ging einen schmalen Durchgang zum Bauwagenplatz entlang. Sie zündete sich
eine Zigarette an.
„Rauchst du?“ Sie bot ihm aus
einer Metallschatulle eine an. Er schüttelte den Kopf.
„Hat meine Mutter Egmont wegen
dir verlassen?“, fragte er und spürte, wie seine Lippen bebten. Sie nahm einen
Zug von der Zigarette und stieß den Rauch aus.
„Nein.“
Er nickte (Sie
ist eine Lügnerin. Eine Schlampe!) und rieb sich die Stirn.
„Wovor wollen oder sollen Sie
mich warnen?“, fragte er weiter und blickte sich um. Es roch nach Rauch. Nach
Schwefel?
„Vor dem, was dein Großvater mit
dir vorhat. Was alle von diesen Verrückten mit dir vorhaben.“ Sie sah an Levin
vorbei und zog ihn am Ärmel zur Seite. Man hatte sie vom Vorplatz der Fabrik
sehen können.
„Hör zu, Levin. Wir haben nicht
viel Zeit. Dein Vater Egmont ist ermordet worden. Von deinem Großvater. Und
Egmont hatte es geahnt, denn er hat … Dinge gefunden, die darauf schließen
ließen, dass dein Großvater einem Geheimbund angehörte. Einem Geheimbund, der
Menschen opfert, um seine Ziele zu erreichen. Egmont war ein Opfer.“Levin
starrte sie an. Sein insgeheimer Verdacht hatte durch die fremde (SCHLAMPE!) Frau eine Stimme erhalten.
„Warum opfern sie?“, wollte er
wissen.Sie inhalierte tief und überlegte. Levin fühlte sich von ihr beobachtet.
Sie war sich bei ihm mit irgendetwas nicht
sicher.
„Ich weiß nicht, ob ich es dir
erzählen kann, Levin. Du wirkst komisch auf mich.“
(Dreckige
Fotze! Gar nichts weißt du über mich.) Levin atmete tief durch, schlug
einmal leicht und unauffällig auf seinen Kopf und fuhr sich durch das Haar.
„Ich kenne Sie nicht.“ Er sah
sie an, versuchte eine Reaktion hinter den getönten Gläsern zu erkennen.
„ Ich habe meinen Vater geliebt
und sehr unter seinem Tod gelitten. Mein Großvater hat mich bis zur
Volljährigkeit aufgezogen und mein Verhältnis zu ihm ist distanziert gewesen.
Er war ein sonderbarer Mann, fast unheimlich, aber auch faszinierend. Ich weiß,
dass er einem Kult, einer Sekte namens Cazimi angehörte und …“, er
schwankte, weil ihm schwindelig wurde. Trommeln und Glockenklang, tiefe Töne,
leicht und akzentuiert angeschlagen. Ein tanzender Schatten.
„Was ist mit dir?“ Sie hielt ihn
am Arm fest.
„Es geht schon, Danke.“ Er wand
sich aus ihrer Berührung.
„Und was die Sekte zum Ziel hat,
weiß ich nicht. Sie interessiert sich für Vulkane. Die Zahl 11 und das Jahr
2012 scheinen von großer Bedeutung zu sein.“ Die Fremde nickte.
„Gut. Dein Vater wusste noch
mehr“, erwiderte sie und sah an Egmont vorbei, als hätte sie etwas gesehen oder
gehört. Es stellten sich ihm die Nackenhaare auf.
„Walter Spies, ein bedeutender
Künstler, lebte in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts auf Bali. Er war
angeblich ein Hohepriester des Cazimi-Ordens, dessen Ziel es ist, einen Geist,
so will ich mal sagen, heraufzubeschwören. Angeblich ist dieser Geist, oder
sind mehrere Geister seit Jahrtausenden im Tiefschlaf auf der Erde. Einige
wenige Menschen wissen von ihnen und bereiten sie auf deren Ankunft vor. Sie
wollen sie erwecken.“
„Sind es 11 Geister?“, fragte er
und erinnerte sich an die Formeln in dem Buch. Erinnerte sich an SIE. Die
Fremde nickte.
„Wahrscheinlich. Egmont ging
davon aus.“ Sie schnippte die Zigarette weg und trat sie aus.
„Um sie zu erwecken, sind 11 Zirkel
damit beschäftigt, im Verborgenen Rituale zu wirken. Jeder Zirkel hat 11
Mitglieder und über 11 Generationen müssen jeweils 11 Opfer erbracht werden.
Dein Vater war das Opfer der letzten Generation. Er weigerte sich, mitzumachen.
Das Opfer der Generation davor war …“
„Vincent, mein Großonkel, der
sich angeblich nach der Expedition in Berlin erschossen hatte. Balthasar hat
ihn umgebracht!“, beendete Levin empört den Satz mit dieser neuen Erkenntnis.
Sie nickte.
„Und Spies? Gehört er auch dem
Zirkel meines Großvaters an?“
„Nein, er war Hohepriester, er
brachte ständig Opfer. Sein Opfer in der Generation deines Großvaters war
Friedrich Wilhelm Murnau, der Regisseur von Nosferatu. Übrigens sind Vincent
und Murnau am selben Tag ums Leben gekommen und die meisten Zirkelvorsteher,
wie auch dein Großvater, trafen sich bei seiner Beerdigung.“
„Was sollte die Expedition
bezwecken? Warum lebte Spies auf Bali und warum ist Balthasar dort so oft
gewesen?“
„Was weißt du über Walter
Spies?“, stellte sie eine Gegenfrage.
„Ein Künstler und Tausendsassa.
Er konnte malen, war Kapellmeister und choreografierte …“ Sie hob den
Zeigefinger und Levin verstummte.
„Er veränderte die
traditionellen Tänze der Balinesen. Egmont hat sich lange Zeit damit
beschäftigt. Er glaubte folgendes: Die alten traditionellen Tänze stellten den
Kampf zwischen Gut und Böse dar. Ein Kampf zwischen den Mächten der Finsternis
und den Mächten des Lichts. Spies veränderte den ursprünglichen Ablauf und
Ausgang des Tanzes. Egmont war sich sicher, dass Spies damit auf das
spirituelle Ganze einwirkte, indem er es veränderte, verwässerte.“ Sie stockte.
Zwei Männer kamen den Weg entlang. Sie schwiegen beide und sahen ihnen
hinterher. Als sie außer Sichtweite waren, erzählte Egmonts Freundin weiter.
„1963 war dein Großvater einige
Zeit auf Bali“, sagte sie.
„Von Januar bis Ende März“,
ergänzte Levin und sie nickte.
„Am 8. März brach der Gunung
Agung aus und brachte über 1500 Menschen den Tod, und was ich dir jetzt
erzähle, Levin, war das letzte, was dein Vater mir anvertraute, ehe er zu
seiner Geschäftsreise aufbrach. Er wollte, dass ich alles weiß, damit ich es
dir erzählen kann, wenn er nicht mehr ist. Und ich glaube, er ahnte damals
schon, dass sie hinter ihm her waren. Dein Vater hat dich geliebt.“ Levin verkrampfte
sich und rang mit den Tränen. Er schluckte.
„Der damalige Präsident
Indonesiens, Sukarno, ließ die erste Tourismuskonferenz des ganzen Landes in
diesem Jahr stattfinden. Europäische Berater, Künstler, Gesellschafter, sie
alle hatten ihn mit dieser Idee infiziert und noch ehe er zugestimmt hatte,
einigten sie sich auf einen Termin. Den 8. März 1963. Und sie flüsterten ihm
weitere Dinge ins Ohr, sie und jene einflussreichen Indonesier, die auch einem
Cazimi-Zirkel angehörten. Sie überzeugten ihn, das hinduistische
Jahrhundertfest, Eka Dasa Rudra, mit diesem Termin gleich zu legen. Dem
hinduistischen Kalender nach würde es später im gleichen Jahr stattfinden, und
da die Festlegung eines exakten Termins einigen Spielraum zuließ, beschloss
Sukarno dieses Fest am 8. März stattfinden zu lassen. Du musst wissen, Levin,
das Eka Dasa Rudra war ein Fest, welches für mehrere 100 Millionen Hinduisten
von Bedeutung war: Das gesamte Universum wurde durch dieses Fest von dem Bösen
gereinigt und der Termin war an die großen Muttertempel in Indien geknüpft und
ein einzelner, beinflussbarer Politiker verlegte ihn.“ Sie zündete sich eine
weitere Zigarette an und sog hastig zwei Züge nacheinander.
„Ich glaube, wir haben nicht
mehr viel Zeit, Levin. Am Anfang des Festes, welches in dem balinesischen
Muttertempel in Besakih am Gunung Agung, dem Berg der Götter stattfand, brach
der Vulkan aus. Eine Bestätigung für alle Priester, die Unheil vorhergesehen
hatten. Und das waren nicht wenige. Und einige sagten, wir haben die falschen
Tänze getanzt, wir haben uns einen falschen Termin für das Eka Dasa Rudra
nennen lassen, die bösen Geister sind frei. Wir müssen sie bändigen. Und auf
Besakih verausgabten sie sich in unvorstellbaren Ritualen und warteten auf ein
Zeichen. Aber weiterhin stieß der Vulkan Lavaströme aus, sodass der Tempel
selbst am Südwesthang des Vulkans bedroht wurde. Am 15. Mai erreichte der sich
stetig voran walzende Lavastrom Besakih. Direkt vor der Tempelanlage, aus der
sich kein Priester hat evakuieren lassen, teilte sich der Strom und verschonte
den Tempel. Geologen bezeichnen es heute noch als Wunder. Dein Vater teilte die
Meinung vieler Hindus. Das Böse war aufgehalten worden, aber es hatte Risse
hinterlassen.“Levin nickte und staunte.
„Ich glaube, ich muss los,
Levin. Ich hoffe, du weißt nun, was zu tun ist.“ Sie drückte seinen Arm, reckte
sich, sah an Levin vorbei und verschwand im schmalen Durchgang. Levin wünschte
sich in diesem Augenblick, er würde rauchen. Gerne hätte er sich an etwas
festhalten wollen. Gedankenverloren schob er eine Hand unter seinen Pullover,
griff nach dem Amulett und ging wieder hinein. Sybille würde sicher schon
warten.
Ende Juli
„Es ist alles in Ordnung. Sie
sind in guter Verfassung, Ihr Kind ist in guter Verfassung. Sie können sich auf
Ihren Urlaub freuen.“ Sybille schien rat-, Levin teilnahmslos.
„Aber es ist doch das letzte
Schwangerschaftsdrittel, Dr. Günther. Und zwei Wochen später ist der Stichtag.“
Dr. Günther beugte sich vor und legte seine Hände ineinander. Er sah zu Levin.
„Es besteht kein Risiko.“ Er
nickte Levin zu und sah dann zu Sybille.
„Sie müssen während des Flugs
Kompressionsstrümpfe tragen, die eine Thrombose verhindern sollen. Sie sind
sportlich, rauchen nicht, haben kein Übergewicht und keinen Bluthochdruck. Es
ist Ihre erste Schwangerschaft im besten Alter und Sie haben bisher noch keine
Fehlgeburt erlitten. Ich werde Ihnen eine schriftliche Erlaubnis ausstellen,
die können Sie bei Komplikationen, also ich meine natürlich bei Problemen, am
Flugschalter vorlegen.“ Dr. Günther nickte ihr aufmunternd zu und stand auf.
„Waren Sie auch auf Bali?“,
fragte Levin und nickte zu den beiden Fotografien, die in seinem Büro hingen.
Er drehte sich um.
„Nein. Nein, ich nicht, aber
gute Freunde von mir.“ Beim Abschied zwinkerte Dr. Günther Levin vertrauensvoll
zu.
Mitte September 2011
Die letzten warmen Tage. Sybille lag, in eine Wolldecke
eingewickelt, auf der Terrasse und schlief. Levin sah fern. Äußerlich.
Innerlich rezitierte er den elften Kreis. Den Kreis der Erweckung, wie er aus
den Symbolen zu erkennen meinte. Immer seltener stellte er Gedanken, Träume und
fremde Stimmen in Frage und immer perfekter verstellte er sich. Die Frage, die
ihn beschäftige: Was erwartete ihn auf Bali? War er ein Opfer wie sein Vater?
Bali?
Er stellte den Fernseher lauter.
„… Wochen die Vulkane
Gunung Agung, Gunung Batur und Mount Merapi auf Java. Es ist davon auszugehen,
dass sich gerade diese an den Grenzen zweier Subduktionszonen befindlichen
Vulkane in nächster Zeit vermehrt aktiv werden. Erd-und kleinere Seebeben
zeugen von erhöhter Aktivität. Reisenden in diesen Regionen wird davon
abgeraten …“
„Habe ich lange geschlafen,
Schatz?“ Augenblicklich wechselte Levin das Programm und drehte sich um.
Sybille stand schlaftrunken im Türrahmen, eine Hand auf den Bauch gelegt, die
andere ordnete das zerzauste Haar.
„Ähm, nein, eine Stunde
vielleicht.“
„Was siehst du denn da?“, fragte
sie neugierig auf den ersten Beitrag bezogen.
„Nichts, ich zappe nur rum“, log
er sie an und zappte weiter.
13 Dezember 2012
Der Flug verlief angenehm und der Transfer vom Flughafen
in Denpasar nach Ubud mit einem Shuttle glich einer erholsamen Pause. Aus den
getönten Fenstern konnten sie einen ersten Eindruck von der Schönheit Balis
gewinnen.
„Es ist schön hier“, sagte
Sybille und drückte seine Hand. Er nickte und lächelte sie an.
„Ja, das finde ich auch. Endlich
am Ziel.“ Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter.
Das Walter-Spies-Haus stand in Ubud in einer
exponierten Lage. Direkt an einem See, inmitten der Reisterrassen.
Normalerweise konnten acht Erwachsene das Haus bewohnen, aber Balthasar hatte
es nur für sie beide reserviert und bezahlt. Nach einem balinesischen
Abendessen, Kokos-Huhn mit Reis, legte sich Sybille hin und schlief
augenblicklich ein. Levin konnte nicht schlafen, obwohl auch er erschöpft war.
Er sah sich die verschiedenen Räume und Gemälde an. Einige waren Originale aus
der Hand von Walter Spies.Romantisches aber auch Bedrohliches und Verstörendes.
Je länger er vor den verstörenden Bildern blieb, desto unbehaglicher wurde ihm,
zumal das fremdartige Flüstern wieder einsetzte. Erst wollte er aus dem Haus
flüchten und sich an den See setzen, aber er hatte eine bessere Idee. Er
schlich in das Schlafzimmer, trug behutsam einen Koffer heraus und suchte mit
diesem einen anderen Raum auf. Hektisch, fast wie ein Abhängiger, öffnete er
ihn und zog sich sein zweites Ich über. Sein altes streifte er wie eine alte
Haut ab.
„Ich freue mich, dass ihr zu
Gast seid“, vernahm er eine angenehme Stimme in seinem Rücken. Schnell klappte
er das Buch zusammen, verbarg den Dolch unter seiner Kutte und drehte sich um.
Walter Spies trug einen schwarzen Pudel auf seinem linken Arm und kraulte ihn
mit seiner rechten Hand. Spies verbeugte sich leicht.
„Meister Spies?“ Levin war
überrascht.
„Wen habt Ihr erwartet, mein
Teuerster?“ Levin schüttelte den Kopf und ein Hauch Rationalität in ihm suchte
nach einem Ausweg.
„Wir sollten uns unterhalten.
Gehen wir in den Salon.“ Spies ging mit stolzen, aber nicht kokettierenden
Schritten voran. Levin musste sich eingestehen, von ihm angetan zu sein.
Im Salon schenkte Spies ihm einen Cognac ein,
bot ihm eine helle Zigarre an und beide setzten sich in die Lehnsessel, die um
einen Rattan-Tisch standen. Spies schwenkte den Cognac, sog an der Zigarre und
sah lächelnd zu Levin. Der Pudel saß auf seinem Schoß, den Zigarrenrauch schien
er gewohnt zu sein.
„Nun, wir haben nicht allzu viel
Zeit. Eure Frau schläft unruhig und braucht euch die Tage.“ Er nippte an dem
Glas und musterte Levin.
„Was erwartet mich?“ Levin hatte
weder einen Schluck getrunken noch die Zigarre gekostet.
„Eine Herausforderung? Ein
Neubeginn? Ihr werdet es wissen, wenn es soweit ist. Genießt die Zeit …“
Spies breitete mit Zigarre und Schwenker die Arme aus, „als wäre es eure
letzte.“ Er stellte das Glas ab und drückte den Stumpen im Zigarrenaschenbecher
aus. Levin stellte verwundert fest, dass Spies Glas leer war. Spies stand auf.
„Nun denn, am 21. wartet eine
Führung in den Purah Besakih auf euch, jenen Tempel, den sie hier Muttertempel
nennen.“ Spies schritt aus der Tür nach draußen und verschwand, wie sich Nebel
auflöste, wenn man ihn mit schnellen Bewegungen zerstob. Levin rauchte auf,
trank den Cognac aus und ging zu Bett. Er meinte am nächsten Morgen geträumt zu
haben, doch als Sybille ihn fragte, warum zwei Gläser im Salon stünden, hatte
er keine Antwort parat.
21. Dezember 2012
Es waren fantastische Tage für Sybille und Levin gewesen.
Sie hatten die Insel mit einem Leihwagen erkundet und die exotische und
komplexe Kultur, sowie die landschaftliche Vielfalt der Insel genossen.
Innerhalb kürzester Zeit erreichte man von Ubud aus traumhafte Strände, die
unmittelbare Umgebung lud zu ausgedehnten Wanderungen ein und abends hörten sie
sich Gamelan-Konzerte an (endlich wusste Levin, was das für ein Glockenspiel
war, welches er gelegentlich gehört hatte) oder sahen sich eine touristische
Kecak-Veranstaltung an. In all der Zeit: Keine Stimmen, keine Gerüche, keine
Bilder, kein Walter Spies. Levin wusste, so war er einmal gewesen und Sybille
verliebte sich neu in den alten Levin. Sie verbrachten ihre zweiten
Flitterwochen.
Morgens klopfte es und der Fahrer eines Taxis
wollte sie beide abholen. Sybille war erstaunt, Levin sagte, er wolle sie
überraschen und sie ließ sich auf den Ausflug ein. Sybille packte ihren
leichten Rucksack (Levin hatte seinen schon gepackt) und sie stiegen ins Taxi.
Da die Insel recht überschaubar und gut
ausgebaut war, erreichten sie die beeindruckende Tempelanlage in Kürze.
„Wow!“, staunte Sybille und sah
die Treppen zum Haupteingang hoch. Levin nickte. Äußerlich gab er sich ruhig,
doch innerlich war er aufgewühlt. Als hätte er unglaublich viele Antennen, die
derzeit auf alles anschlugen und er drohte, zu zerbersten. Er wollte die Stufen
erklimmen, als ein Balinese aus einem Seiteneingang herbeieilte und ihn auf
Deutsch anredete,
„Nicht hier, Mister. Kommen Sie,
wir gehen ein Stück zu eine andere Ort.“
Levin, der solche Begebenheiten mittlerweile als völlig normal empfand,
wollte dem Mann folgen, doch Sybille weigerte sich.
„Was soll denn das? Wer sind Sie
überhaupt? Wir wollen zum Tempel!“ Sie sah Levin auffordernd an. „Wehr dich!“,
hieß der Blick.
„Schatz, das ist schon in
Ordnung. Das ist eine Überraschung von Großvater Balthasar. Ich weiß auch noch
nicht genau, was uns erwartet, aber es wird schon richtig sein.“
„Großvater Balthasar?“ Sybille
war diese schmeichelnde Titulierung im Wortschatz ihres Mannes nicht geläufig,
aber vielleicht entwickelte sich nachträgliche Zuneigung aus Dankbarkeit
heraus. Sie nickte.
Sie folgten einem Pfad, der von der
Tempelanlage wegführte und sie beschritten ihn so lange, bis Sybille zu
rebellieren anfing. Zu Recht, wie auch Levin fand. Sie waren bestimmt schon
eine dreiviertel Stunde gelaufen.
„Nur noch eine bisschen, dann
wir sind da“, beschwichtigte der Balinese, der sich ihnen mit Kutut vorgestellt
hatte.
„Wo gehen wir denn hin?“, fragte
Levin.
„Eine Höhle. Eine große Höhle“,
antwortete Kutut und beschrieb gestisch eine große Höhle. Sybille schüttelte
mit dem Kopf, gab sich aber nachsichtig und folgte ihnen weiter, obwohl sie
Schmerzen litt, und das Baby (Linus Vincent) sie ständig trat.
Der Höhleneingang verbarg sich hinter einem
Abhang und der Zugang war beschwerlich. Levin musste Sybille häufig seine Hand
reichen, damit sie nicht stürzte.
„Levin, ich glaub, ich kann
nicht mehr. Es tut weh und Linus boxt die ganze Zeit.“ Sie stützte sich auf
ihren Oberschenkeln ab und atmete tief durch.
„Nur noch ein Stück“, motivierte
er sie.
„Und dann?“, fragte er sich im
Stillen. Was dann? Er sah nackte Leiber, die sich aneinander rieben, die es
miteinander trieben, Zähne und Augen aus einem Meer aus Flammen auf- und
eintauchen, hörte tiefe, kehlige Rufe, die so laut waren, dass die sie
ausstoßendenen Körper weitaus größer sein mussten, als alles, was er sich
vorstellen konnte und wollte.
„Nur noch ein Stück, dann haben
wir es geschafft.“ Er lächelte sie an und reichte ihr seine Hand. Sie nahm sie
und folgte ihm, auch wenn sie vor Schmerzen nur noch gekrümmt gehen
konnte.
In der Höhle brannten an den rohen Felswänden
auf ihrem Weg hinein Fackeln. Die Höhle musste gigantisch groß sein, das
gesamte Ausmaß war nicht zu erkennen. Ihr Weg führte hinunter, Levin erwartete
eine angenehme Kühle, es überraschte ihn aber eine steinerne Wärme. Je weiter
sie hinunter gingen, desto wärmer wurde es.
„Hast du was gesagt?“, fragte
Levin und drehte sich zu Sybille um.
Sie schüttelte keuchend den Kopf, dankbar für
jede Pause, die sie erhielt. Levin ging weiter und nahm seinen Rucksack in die
Hände. Sie erreichten eine kleinere Kaverne, die rundum und einmal quer durch
die Mitte erleuchtet wurde. Levin dachte erst, auch in der Mitte seien Fackeln
aufgestellt worden, doch es handelte sich um einen unterarmbreiten Spalt, aus
dem es von unten wie von einer Esse leuchtete. Als es ihm bewusst wurde,
umhüllte ihn der Rauch und vermengte sich mit dem Geruch von Schwefel aus dem
Herzen der Glut. Trommeln erklangen zurückhaltend, Gamelanglocken schlugen an
und Flammen züngelten empor. Flammen, die Schatten an die Wände warfen, die
sich bewegten, die tanzten, die mit bedächtigen Schritten näher kamen. Es waren
goldene Gestalten, jene die mit ihm seit Jahrhunderten auf Erfüllung gewartet
hatten. Ein Schrei. Sybille, die zusammenbrach und vor ihm kniete und von 10,
mit ihm 11, Kutte tragenden Gleichgesinnten umringt wurde. Er sah zu ihr hinab
und sprach, nein, schrie die Formel des Erweckens in den Spalt. Dabei zog er
den Kris, den gewundenen Dolch hervor. Die anderen wiederholten seine Worte. Er
holte aus, stach Sybille von oben in den
Bauch. Schmerz und Schrecken vereinte sich in Sybilles Schrei und Levin schlitzte
ihren Leib mit einem halbkreisförmigen Schnitt auf. Eine weitere Formel, ein
weiterer Schnitt, halbkreisförmig in die andere Richtung. Sybille wollte
fallen, sie wurde gehalten. In dem Spalt bewegten sich Schatten in
mannigfaltigen Formen, Levin legte seinen Dolch ab und öffnete ihren Leib mit
beiden Händen. Er spürte, wie sein Samen sich in ihr bewegte. Wie er drängte.
Stöße erschütterten die Höhle, Stöße würden nun auch andere Höhlen erschüttern,
Höhlen in Amerika, Asien, Afrika, Australien und Europa. Levin schwankte, ließ
jedoch nicht los. Er half seinem Samen, sich heraus zu kämpfen. Er half IHNEN
sich aus den Wänden zu lösen, aus dem Spalt zu kriechen. Ihm wurde heiß und er
wusste, dass er verbrennen würde. Seine Haut warf Blasen, sein Griff ließ nicht
locker. Die Formel, er sagte sie auf, wieder und wieder bis zum 11. mal. Er
öffnete seine Augen und ehe sie in seinen Augenhöhlen verdampften, sah er etwas
aus Sybille herauskriechen. Ein langes Insektenbein stieß hervor und ein
Tentakel bewegte sich tastend aus ihr heraus. Samen von meinem Samen, dachte
Levin, als der Vulkan Gunung Agung, der Berg der Götter, in einer plinianischen
Eruption explodierte und neben Tonnen Gestein, Magma und Lavafetzen noch etwas
anderes von sich gab.
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