Interview mit Jörg Kleudgen

Vincent Preis: Lieber Jörg, danke für deine Bereitschaft, dieses Interview mit uns zu machen. Zuerst Glückwünsche zur Nominierung mit deiner Eigenproduktion des COSMOGENESIS-Hörbuchs, das als ARCHIVE ONE deiner Band THE HOUSE OF USHER erschienen ist.

Jörg Kleudgen: Vielen Dank! Ich frage mich allerdings, wie ich zu dieser Ehre komme. Immerhin trete ich damit gegen wesentlich "größere" Produktionen an, während ARCHIVE ONE einem doch sehr begrenzten Konsumentenkreis zugänglich war, was in der Natur der Sache liegt



VP: Kannst du uns den sehr ungewöhnlichen Weg dieser Veröffentlichung schildern?

JK: Nun, die COSMOGENESIS-Lesungen sollten ursprünglich in der Hörbuchreihe des BLITZ-Verlages erscheinen, der auch die Buchvorlage veröffentlicht hatte. Leider hatten Christian von Aster und ich nur eine Auswahl von Texten im Studio aufgenommen, und von Verlagsseite war - eigentlich nachvollziehbarerweise - eine komplette Lesung erwünscht, so dass diese Aufnahmen für diesen Zweck unbrauchbar waren. Nach einiger Zeit fiel mir das Projekt dann zufällig wieder in die Hände, und ich überlegte, auf welchem Wege ich Christians wirklich sehr schöne Lesung einem Publikum zugänglich machen könnte. Ich rief die ARCHIVE-Reihe ins Leben; handgefertigte Papiertaschen mit jeweils zwei hübsch gestalteten CDs zu einem günstigen Preis (€ 10,00 inkl. Porto), und sichtete das vorhandene Material. Zu diesem Zeitpunkt hatten einige der CDs, auf denen ich die Aufnahmen gesichert hatte, bei der Lagerung Schaden genommen, so dass manche Texte endgültig verlorengegangen waren. Ich vermute, dieses Schicksal hätte den jetzt veröffentlichten Mitschnitten auch früher oder später bevorgestanden.

VP: Die Geschichten wurden von Christian von Aster eingesprochen, mit dem du ebenfalls das HALLIG SPUK-Hörbuch realisiert hast. Nun ist Christian nicht gerade für seine Ernsthaftigkeit bekannt, ohne natürlich die Qualität seiner Arbeiten damit in Frage stellen zu wollen. Wie war/ist die Zusammenarbeit?

JK: Ich kenne Christian schon lange und schätze beide Seiten an ihm sehr: die ständig zu geistreichen Späßen aufgelegte, eloquente, aber auch die tiefsinnige, ernsthafte, die in Geschichtensammlungen wie etwa WEBSTERS PANDÄMONIUM zutage tritt. Ich weiß, dass Christians lustige Anekdoten von der Leserschaft mehr geschätzt werden als seine pointierten Schauergeschichten. Daher ist er wahrscheinlich gezwungen, sich auf diese Arbeit zu konzentrieren.
Seine Gesellschaft genieße ich immer sehr. Wir sehen uns vielleicht einmal im Jahr, aber da jeder weiß, wie sehr der jeweils andere in seine eigenen Projekte verstrickt ist, nehmen wir uns die langen Pausen dazwischen gegenseitig nicht übel.

VP: ARCHIVE ONE/COSMOGENESIS ist die erste Eigenproduktion eines Autoren, die für den Vincent Preis nominiert ist, was doch für eine gewisse Streuung spricht. Wurdest du von der Zahl der Bestellungen überrascht?

JK: Nein, ich hatte schon eine ungefähre Vorstellung von der Nachfrage. Eine Bedingung der Freigabe durch den Verlag war ja, dass die Auflage gering gehalten würde. Es handelt sich um eine Produktion, die einen ganz speziellen Kreis anspricht. Aber das steht ARCHIVE ONE gut zu Gesicht. Es gibt meiner Ansicht nach genügend Produktionen, die für ein Massenpublikum gemacht werden. Dabei handelt es sich durchaus um professionelle Aufnahmen. Aufgrund meiner Arbeit mit THE HOUSE OF USHER steht mir ein Tonstudio zur Verfügung. Es ist also keine Aufnahme, die am Küchentisch entstanden ist….

VP: Für alle Goth-Rock-Freunde und THE HOUSE OF USHER-Fans: Welche weiteren Veröffentlichungen sind denn in der ARCHIVE-Serie geplant?

JK: Bereits erschienen sind inzwischen die Teile 2 bis 5, bei denen es sich allerdings um reine Musikaufnahmen handelt, darunter ein Demo von 1993, für das bei Ebay schon ziemlich hohe Summen gezahlt wurden. Wobei man sich nie sicher sein konnte, ob es sich um die Originalcassette oder nur eine Kopie von wesentlich geringerem Wert (und Qualität) handelte.
Na ja, und dann gibt es vielleicht mit ARCHIVE SIX doch in nicht allzuferner Zukunft noch eine "Küchentisch"-Aufnahme. Aber die hat einen anderen Hintergrund. Diesmal habe ich selber einen noch unveröffentlichten Text gelesen: "Das Tagebuch des toten Träumers". Es handelt sich eher um eine Art Hörspiel mit Geräuschen und Musik, und damit um eine Sache, die mir unheimlich viel Spaß gemacht hat.

VP: Dieses Jahr hast du – zur freudigen Überraschung aller Fans der deutschen Phantastik – deinen Verlag GOBLIN PRESS mit der Novelle STELLA MARIS wieder belebt. Was erwartet die Leser in absehbarer Zeit noch aus dem Hause GOBLIN PRESS?

JK: Die GOBLIN PRESS ist das gedruckte Pendant zur ARCHIVE-Reihe. Auch hier stehen sehr kleine, handgefertigte Auflagen im Vordergrund. Dafür muß man als Leser schon eine gewissen Offenheit oder Bereitschaft an den Tag legen, wenn man sie wirklich zu schätzen wissen soll. Wer einen auf Hochglanzpapier gedruckten Mainstreamroman erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht. Deshalb warne ich lieber auch jeden Besteller vor. Ich habe jedoch eine Reihe von Zuschriften erhalten, die belegen, dass die Geschichte in den Herzen der meisten Leser angekommen ist.
Im Herbst wird Michael Knokes VOM FLÜSTERN DER MOLLUSKEN erscheinen, für das Frühjahr 2012 ist seine Novelle DER KATALEPTISCHE TRAUM geplant. Michaels Tod im Jahre 2010 war auch einer der hauptsächlichen Auslöser für die Wiederbelebung des Kleinverlags knapp ein Jahr später.

VP: Du warst ja eng mit ihm befreundet. In unserer neu geschaffenen Kategorie „Sonderpreis“ ist er ebenfalls nominiert. Du hast seinen Werdegang als Schriftsteller von den Anfängen (in der GOBLIN PRESS) an begleitet. Wie würdest du Michael und sein Werk beschreiben?

JK: Das kann ich leider nicht mit wenigen Worten. Ich habe über ihn einen ausführlichen Nachruf verfaßt, der in der April-Ausgabe von CTHULHU LIBRIA erscheinen wird und einen umfassenden Überblick über seine Arbeit bietet, die ich einfach nur "herausragend" bezeichnen kann. Michael hat seine Geschichten ge- und erlebt. Sein Roman DER WENDEKREIS DER ANGST (Eloy Edictions) ist für mich das Eindringlichste, was die deutsche Phantastik der Gegenwart zu bieten hat. Wer diese Geschichte liest, wird viel über den Autor selbst erfahren, den ich vor allem als sensibel, freundlich und visionär charakterisieren würde. In der großen deutschen Phantastikszene war Michael Knoke einer der wenigen, die die Bezeichnung "Künstler" verdienen.

VP: Im März ist euer gemeinsamer Roman TOTENMAAR im BLITZ-Verlag erschienen. Könntest du uns kurz schildern, worum es darin geht und wie die Zusammenarbeit verlaufen ist?

JK: Die Zusammenarbeit verlief eigentlich wie immer in dem eingespielten Team, das wir zu diesen Zeitpunkt bereits waren. Im Groben gab es eine Trennung zwischen der ersten Romanhälfte, für die Michael verantwortlich zeichnene, und der zweiten Hälfte von mir, die allerdings als erste existierte. Insofern war das Ziel bekannt, aber der Weg dorthin noch nicht. Eine weitere Besonderheit war, dass Michael mit den Örtlichkeiten nicht vertraut war, so daß ich ihn diesbzeüglich bei vielen Beschreibungen in seinen Textpassagen beraten mußte. Die Arbeit war bei uns ohnehin nie so streng geteilt. Wenn jemandem eine gute Szene einfiel, die ins Exposé passte, hat er sie auch selber geschrieben. Zuletzt habe ich den gesamten Roman in Absprache mit Michael noch einmal so überarbeitet, dass keine harten Brüche darin enthalten waren. Er liest sich heute im Gegenteil sehr wie aus einem Guss. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir sehr viel über die Geschichte diskutiert haben, die voller mystischer Abspielungen ist, und dass der Charakter des Roland Block, der am Totenmaar in der Eifel seinem Schicksal begegnet, sowohl einige Züge und Erinnerungen Michaels als auch meiner selbst in sich vereint.

VP: Schlummern noch weitere Manuskripte in Michael Knokes Nachlass, auf die wir uns freuen können?

JK: Ja, es gibt sowohl einige unveröffentlichte und auch längere Texte als auch begonnene Erzählungen. Ich habe das gesamte Material erst einmal katalogisiert und gesichert. Gelesen habe auch ich noch nicht alles. Uwe Voehl, der ebenfalls viele Jahre mit Michael befreundet war, und ich planen uns eines Tages zusammenzusetzen und gemeinsam zu überlegen, wie wir der Besonderheit dieses Autors gerecht werden können. Wir stellen uns einen schönen Werkband mit einer Auswahl an Geschichten und erläuternden Materialien (Auszüge aus dem Briefverkehr, der uns ebenfalls fast komplett vorliegt) in schöner Gestaltung vor. Aber das ist ferne Zukunftsmusik. Mit der Veröffentlichung von TOTENMAAR und den beiden geplanten GOBLIN PRESS-Bänden ist ein Anfang gemacht, um ihn vor dem Vergessenwerden zu bewahren.

VP: Herzlichen Dank, Jörg, für dieses Interview.

JK: Nein, ich habe zu danken, für die Nominierung und den Raum, der mir hier zur Verfügung gestellt wird!

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