Ingrid Pointecker (Verlag ohne Ohren)

 Ingrid Pointecker (Verlag ohne Ohren) ist für den Vincent Preis 2023 in der Kategorie Sonderpreis für die Förderung der Phantastik als Verlegerin und Herausgeberin und für die Aktion Libro sospeso, die Lesern mit wenig Geld phantastische Literatur zugänglich macht, nominiert. Grund genug ihr ein paar Fragen zu stellen.

Michael Schmidt: Hallo Ingrid, du bist für den Vincent Preis nominiert. Herzlichen Glückwunsch!

Ingrid Pointecker: Hallo Michael, vielen Dank, das freut mich enorm.

Michael Schmidt: Ich weiß nicht, ob die Horrorgemeinde dich allgemein kennt, daher stell dich doch mal bitte vor!

Ingrid Pointecker: Eigentlich bin ich Linguistin, habe aber 2013 meinen kleinen Verlag gegründet, der unter anderem auch Horror-Romane und -Anthologien in unterschiedlich finsteren Facetten verlegt. Im Brotjob wird es bei mir noch gruseliger, da arbeite ich im Projektmanagement. Wie man es also dreht und wendet, am Thema komme ich nie vorbei.

Michael Schmidt: Verlag ohne Ohren, ein heißer Name. Was veröffentlichst du da alles und ist das eine Ein-Frau Show oder hast du Mistreiter?

Ingrid Pointecker: Unser Kernthema ist phantastische Literatur im Allgemeinen, speziell aber düstere Themen von Dark/Urban Fantasy über Science-Fiction und Steampunk bis hin zu Horror. Manchmal gibt es Mischformen und Ausflüge in weniger beackerte Gebiete der Phantastik.

Seit 2022 bin ich nicht mehr allein, meine Kollegin Birgit unterstützt mich als freie Mitarbeiterin. Und es gibt mittlerweile über 150 Autor*innen bei mir im Verlag sowie zahlreiche externe Lektor*innen und andere Menschen, die zu den Buchprojekten beitragen. Ganz allein hat es zwar lang funktioniert, aber so ist es wesentlich einfacher.

Hinter mir steht außerdem noch mein langjähriger Partner, der mich auf Messen und in der Verpackungslogistik unterstützt.

Michael Schmidt: Der Vincent Preis ist ja ein Literaturpreis für Horror und unheimliche Phantastik. Welche Titel habt ihr da im Programm und kannst du den Horrorlesern empfehlen?



Ingrid Pointecker: An Romanen haben wir „Zweistimmig“ (Horror in der österreichischen Provinz) von Claudia Kolla und Werner Graf, „Opferreigen“ von M.M. Vogltanz (Psychohorror) und zahlreiche Bücher, die eigentlich dem Endzeit-/SciFi-/Dark Fantasy-Bereich entstammen, aber starke Horrorelemente haben („Der letzte Traum“ von Faye Hell oder „Sanguen Daemonis“ von Anna Zabini). Bei den Anthologien sind es besonders die „Geschichten aus dem Keller“ (eher die härtere Gangart) und „Verrufen“ (Gänsehaut-Grusel), die genau zum Thema passen.

Ich persönlich würde mit „Verrufen“ einsteigen, die Anthologie ist sehr kurzweilig und gibt einen guten Eindruck davon, was ohneohren so macht.


Michael Schmidt: Ich habe das großartige „Dies ist mein letztes Lied“ gelesen von Lena Richter. Bestimmt ein Kandidat für den DSFP und KLP. Tolles Buch. Wie kam es zur Veröffentlichung?

Ingrid Pointecker: Vielen Dank für das Lob! Die Veröffentlichung passierte auf recht klassischem Weg. Lena Richter hatte mich nach einem kurzen Twitter-Gespräch wegen der Novelle angeschrieben. Da eins meiner Herzensthemen Musik ist bzw. schon immer war, musste ich nicht allzu lange überlegen und habe zugesagt. Kleinverlagstypisch hat es dann noch circa ein Jahr gedauert und die Novelle war erschienen. Das ging aber nur dank der Autorin so strukturiert, weil sie viele Ideen zur Gestaltung und auch die Cover-Illustratorin Ephi schon mitgebracht hat. Alles in allem aber ein Buch, das mich auch nach mehr als einem Jahr seit Veröffentlichung noch extrem glücklich macht.



Michael Schmidt: Generell hätte ich „Ohne Ohren“ in die Science-Fiction Ecke gestellt. Täuscht der Eindruck oder macht ihr viel SF?

Ingrid Pointecker: Das täuscht nicht und liegt eigentlich an zwei Gründen. Science-Fiction ist mein Lieblingsthema, ich bin damit aufgewachsen und es ist einfach meine persönliche Komfortzone als Verlegerin.

Der zweite Grund wird wahrscheinlich auch dadurch befeuert. Wir bekommen wesentlich mehr Einsendungen im Bereich Science-Fiction als zu anderen Themen.

Michael Schmidt: Melanie Vogltanz, Jol Rosenberg, Lena Richter, Jacqueline Mayerhofer, Elea Brandt. Viele Autorinnen und Autorx. Legst du gezielt Wert auf weibliche und nonbinäre Stimmen oder hat sich das zufällig ergeben?

Ingrid Pointecker: Als ich den Verlag gegründet habe, habe ich da gar nicht darauf geachtet. 2015 kam dann der Punkt, an dem mir auffiel, dass bei mir viele Menschen vorstellig werden, die anderswo nicht veröffentlicht werden. Das hat mich lange verwirrt, denn die Texte waren großartig.

Hinterfragt man das Ganze (was ich dann getan habe), öffnen sich Abgründe in der Buchbranche, was den Umgang mit marginalisierten Menschen angeht. Und da die Buchwelt ja auch nur ein Ausschnitt aus der „regulären Gesellschaft“ ist, verwundert das kaum. Es fehlen Vorbilder, es fehlt Repräsentation und es gibt jede Menge Vorurteile. Es hat in meinem Verlag dann noch eine ganze Weile gedauert, bis ich Wege gefunden habe, möglichst vielen Stimmen gerecht zu werden. Und das ist ein bis heute fortdauernder Prozess, bei dem immer wieder Fehler passieren und Dinge angepasst werden müssen. Und wir reden da nicht nur von weiblichen und nonbinären Stimmen, sondern auch über Themen wie Behinderung, Neurodivergenz, Produktionsbedingungen in der Branche und vieles mehr.

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich das gerne früher gemacht, aber dafür fehlte mir lange der Mut bzw. überhaupt die Erkenntnis, was ich da an Themen vor mir habe. Und es hat nicht geholfen, dass man in der Branche innerhalb von wenigen Jahren von der „dynamischen Jungunternehmerin“ zur „kinderlosen, queeren Frustfeministin“ wird (alles Zitate, keins davon sehr geliebt).

Michael Schmidt: Wieviele Bücher hast du bzw. dein Verlag mittlerweile veröffentlicht?

Ingrid Pointecker: Im Moment sind es 36 Titel, die aktuell erhältlich sind, gemacht haben wir mehr (also über 40), die aber nicht mehr bei uns verlegt werden.

Michael Schmidt: Was steht dieses Jahr an Neuerscheinungen an?


Ingrid Pointecker: Der März ist einer Anthologie aus dem Steampunk-Bereich gewidmet, nämlich „Die Abenteuer von Pina Parasol“ aus der Feder von Tino Falke. Im April gibt es eine Anthologie namens „Urban Fantasy Going Mental“, herausgegeben von Aşkın-Hayat Doğan und Jade S. Kye. Ebenfalls im April erfolgt der Auftakt einer Novellenreihe namens „Schattenspiele“ von Judith und Christian Vogt, die beiden weiteren Teile kommen im Sommer und Herbst/Winter. Zur Vegan Fantasy Fair im Sommer gibt es einen ganz großartigen Dark Fantasy-Rockstar-Roman von Melanie Vogltanz. Für die Herbstsaison arbeiten wir gerade mit Nora Bendzko zusammen, die den Folgeband von „Die Götter müssen sterben“ bei uns herausbringt („Die Helden sind tot“). Damit wechselt nach Eleanor Bardilac eine zweite Autorin vom Großverlag zu uns. Beschließen werden wir dieses actionreiche Jahr dann mit „Psyche mit Zukunft“, einer Science-Fiction-Anthologie, die von Jol Rosenberg herausgegeben wird.

Es können sich natürlich Dinge verschieben, aber das ist der grobe Plan.


Michael Schmidt: Wie siehst du die deutschsprachige Phantastikszene? Wo sind ihre Stärken und was fehlt ihr zum großen Glück?

Ingrid Pointecker: Puh, schwierige Frage. Ich sehe sie kritisch, weil sie mich auch kritisch sieht? Die Stärken liegen meiner Meinung nach darin, dass wir viele Veranstaltungen der Szene haben, die gut funktionieren und etabliert sind. Auch die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen ist eingespielt, ein wirkliches Konkurrenzgefühl verspüre ich eher selten. Zum großen Glück würden mir zwei Dinge fehlen:

1. Dass wir ein bisschen kritischer werden. Wer bekommt wann welche Plattform und warum? Wie können wir uns mal in Erzählstrukturen, Themen und Verhalten von Gewohnheiten wegbewegen und Neues erkunden?

2. Dass wir uns aus der Phantastik rausbewegen. Es gibt immer noch viele Menschen, die mit phantastischer Literatur automatisch das Kinderbuch verknüpfen, oder etwas komplett Lächerliches, das nichts mit den eigenen Lesegewohnheiten zu tun hat. Da müssen wir mutiger werden und Lesende ködern, die vielleicht neu dazukommen und sehr wohl Interessen haben, die wir ansprechen. Meine liebste Aussage ist ja immer „also, sowas lese ich eigentlich nicht …“

Die einzige Reaktion, die bisher was gebracht hat, war: „Bis jetzt.“

Michael Schmidt: Ohne Ohren ist, wie auch einige andere Phantastikverlage, aus Österreich. Ist das ein Standortvor- bzw. Nachtteil oder spielt das überhaupt keine Rolle in der globalisierten und modernen Welt?

Ingrid Pointecker: Auf der seriösen Seite muss man sagen, dass ich mit meinem „lustigen Dialekt“ schon viele Bücher verkauft habe. Und klar, es ist ein Vorteil, wenn Menschen am Verlagsstand ein bisschen wohlfühlig im letzten Wienurlaub schwelgen, wenn sie unsere Werbung sehen.

Auf der ehrlichen Seite muss man sagen, dass Österreich logistisch und messetechnisch der absolute Arsch der Welt ist. Jede Lieferung dauert länger, jede Messefahrt bedeutet eine Reise von minimal 600 Kilometern. Das ist anstrengend.

Dass wir ein seltsam konservatives Fleckchen Welt sind, dürfte sich auch längst herumgesprochen haben. Und für Kunst- und Kulturschaffende ist das nicht ideal.

Michael Schmidt: Was liest du selbst wenn du nicht gerade verlegst?

Ingrid Pointecker: Oh, ich lese ziemlich viel zu sehr vielen Themen (schon immer). Gerade im Moment lese ich die Biographie von Tove Jansson, die gesammelten Essays von Ursula K. Le Guin und DC Bombshells Nummer 5.

Michael Schmidt: Noch ein Wort an die Leser!

Ingrid Pointecker: Lest Dinge, die euch erstaunen und begeistern! Und selbst wenn ihr nicht bei uns kauft, erzählt weiter, dass es eine kleine, unabhängige Verlagsszene gibt. Ihr könnt einen echten Unterschied für Schreibende und deren Reichweite machen!




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