Interview mit Thomas Finn


Stell dir einen schlichten, schwarzen Raum vor, zwei sich gegenüberstehende blutrote Kanapees, einen schlichten, weiß lackierten Tisch, eine weiße Vase mit einer schwarzen Dahlie zum Inhalt. Im Hintergrund hören wir Vivaldi: https://www.youtube.com/watch?v=odYiFYaq6pk



VV: Moin Tom, herzlich Willkommen hier beim Vincent Preis. Schön, dass du da bist. Was ist denn dein Getränk deiner Wahl?

TF: Tee. Speziell grüner Tee. Den trinke ich literweise.


VV: Dein Roman „Lost Souls“ hat es in die Endrunde zum besten deutschsprachigen Horror-Roman geschafft. Und auch meines Erachtens ist es lupenreiner Horror. Warum? Warum Horror?

TF: Zunächst: Ich freue mich wirklich sehr über den Platz in der Shortlist! In Lost Souls steckt auch viel Herzblut. Warum nun Horror? Naja, da hätten wir zunächst einmal unzählige beißwütige Ratten. Viele Ratten … Und das Schicksal von 130 verschwundenen Kindern … und mit dem ‚Rattenfänger von Hameln‘ eine alte deutsche Volkssage, die praktisch jeder kennt und die bei genauerer Betrachtung ziemlich verstörend ist. Ich denke, es sind zunächst einmal diese Zutaten, die den Roman grundsätzlich für einen guten Horrorstoff prädestinieren. Außerdem habe ich mich beim Schreiben von der Devise leiten lassen, was ich gruselig finde. Und das war im konkreten Fall eine Mischung aus Mystery und Monsterhorror. Am glücklichsten bin ich jedoch nach wie vor über die eigentliche Idee hinter dem Stoff.


VV: Dein Roman strotzt ziemlich vor guter Recherchearbeit.


TF: Danke. Wer mich kennt, weiß, dass ich mich immer stark darum bemühe, die Realität so dicht wie möglich mit der Fiktion zu verschmelzen – bis beides möglichst kaum noch voneinander zu unterscheiden ist. Zu meiner Zeit beim Phantastik-Magazin Nautilus sprachen wir dabei gern vom Effekt der „fiktiven Authentizität“. Also dem Gefühl, dass die Geschichte trotz aller übernatürlichen Elemente tatsächlich wahr sein könnte. Bühnen, Hintergrunde, überraschende Details, all das muss zwangsläufig so präzise wie möglich recherchiert sein, um diesen Effekt zu erzeugen. Ein Freund meinte mal, dass das im Zweifel doch „Perlen vor die Säue“ geworfen wäre, da der Gelegenheitsleser gerade Kleinigkeiten kaum erkennen würde. Aber das stimmt nur zu Teilen. Es gibt auch jene Leser, die – wie bei Lost Souls tatsächlich geschehen - dann sogar eine Fahrradtour zu den Schauplätzen des Romans unternehmen, und sich darüber freuen, dass selbst die Farbe einer beschriebenen Tür stimmt.


VV: Bilde ich mir das nur ein oder warst du tatsächlich vor Ort?


TF: Nein, leider nicht. Das war zwar geplant, inklusive einer Wanderung durch das Ith-Gebirge. Aber während der Schreibarbeit starb mein Vater und dann waren plötzlich andere Dinge wichtiger. Aber dank meiner gut sortierten Hausbibliothek, Freunden aus dem Hamelner Umland, der Allmacht heutiger Suchmaschinen und so formidabler Recherchehilfen wie Google-Streetview war es zum Glück auch so möglich, all jene Dinge in Erfahrung zu bringen, auf die ich während des Schreibens den Fokus legte.


VV: Passiert dann bei der Recherche auch etwas, was den Roman beeinflusst?


TF: Oh ja. Unbedingt und immer wieder. Und manchmal ist das auch etwas gruselig, etwa, wenn sich plötzlich Elemente in die Handlung drängen, die du als Schöpfer der Geschichte niemals erahnt hättest. Du erinnerst dich an die seltsame Statue, die meine Protagonistin findet? Die Idee dazu entstand zunächst beim Schreiben und zielte rein auf den Effekt. Dann erst begann ich zu recherchieren, ob es im Hamelner Umland nicht etwas Reales gäbe, an das ich die Idee andocken könnte. So erst erfuhr ich überhaupt von der wundertätigen mittelalterlichen Marienstatue, die im Umland des Iths über Jahrhunderte kultische Verehrung genoss. Das hat der Handlung noch einmal einen richtigen Drive verliehen. Nur finde ich das im Nachhinein noch immer unheimlich. Fast so, als wäre all das tatsächlich Teil eines großen und verwobenen Ganzen …
Cover gerne mal wenden. Da steckt eine Überraschung drin ...


VV: Oh ja, das glaube ich dir gerne. Und wie stehst du zu Ratten? Übrigens bei deinem Nachwort musste ich schallend lachen. Schön, dass du noch hier bist!


TF: *lacht* Ich persönlich mag Ratten. Für mich sind das durchaus possierliche Tiere. Aber natürlich war mir von vornherein klar, dass Ratten einen gewissen Ruf genießen, weswegen sie für den Aspekt des „Monster-Horrors“ überaus geeignet sind. In diesem Roman, und angesichts des aufgegriffenen Themas, mussten sie natürlich als Sendboten des Schreckens stehen.


VV. Solltest du den VP gewinnen, was würdest dann machen?


TF: Mich zunächst einmal sehr freuen. Und dann würde ich die Urkunde neben jene aus 2010 hängen, denn damals war es mir vergönnt, den 2. Platz beim Vincent Preis mit „Weißer Schrecken“ zu ergattern. Die Urkunde dient mir heute noch als Ansporn. Aber ich gestehe, ein 1. Platz wäre mir natürlich noch lieber.


VV: So, jetzt wird es mal langsam persönlich. Du hast ja gesagt, ich darf alles mit mir dir machen, solange die Hosen an bleiben.


TF: Na toll. Hier, an diesem Tisch sieht man das gar nicht …


Kannst du dich erinnern, wann und warum du dich das erste Mal gegruselt hast?

TF: Hm, ich schätze, als mich meine Eltern erstmals als Kind allein in den Keller schickten, um dort etwas zu holen. Klar, es gibt natürlich keine Monster, die in Kellern leben. Andererseits behaupten das auch nur die, die unversehrt wieder zurückgekommen sind …


VV: Wie stehst du zum Übersinnlichen? Sind dir in deinem Leben Dinge wiederfahren, die spooky waren? Die du dir nicht erklären kannst?

TF: Als Atheist glaube ich nicht an das Übernatürliche – was aber nicht heißt, dass es nicht doch über“sinnliche“ Dinge gäbe, die mich heute noch rätseln lassen. Ich bin mal als Kind auf einem Spielplatz rücklings von einem hölzernen Rutschturm gefallen, als ich das dortige Dach erklimmen wollte – und war dann einige Stunden bewusstlos. Erwacht bin ich erst zuhause. Aber ich erinnere mich recht genau, wie eine Spielkameradin von ihrer Schaukel aufsprang und zu mir lief. Nur sehe ich diese Szene immer leicht von oben … ich muss da aber längst bewusstlos am Boden gelegen haben. Eine außerkörperliche Erfahrung? Wer weiß.


VV: Du schreibst regelmäßig im Genre Horror. Was fasziniert dich daran?

TF: Horror, Schrecken und Grusel sind die stärksten Empfindungen, die man als Leser empfinden und als Autor heraufbeschwören kann. Ich schätze, das ist es, was mich an diesem Genre am meisten begeistert.

VV: Vor allem in deinen Romanen „Weißer Schrecken“, „Aquarius“ und jetzt auch „Lost Souls“ geht es um das vergangene Böse, dass sich in der Gegenwart manifestiert, bzw. manifestieren will. Was fasziniert dich an Geschichte? Und wie weit, kannst du dir vorstellen, dass da etwas im Verborgenen lauert? 

 
TF: Dass wirklich etwas im Verborgenen lauert, glaube ich zwar weniger. Aber zumindest mich haben immer Storys fasziniert, die dem Vergangenen eine unheimliche Komponente zuschreiben. Der Gedanke „Was wäre, wenn unsere Altvorderen doch nicht ganz unrecht hatten?“ ist ja auch immens spannend.


VV: Bei Dark Wood lauert das Böse ja nicht nur im Außen, sondern viel stärker im Innen. Wie auch in deinen anderen Romanen, nur nicht so stark, wie ich finde. Glaubst du, es gibt böse Menschen?

TF: Ja, davon bin ich überzeugt. Ich selbst bin wissentlich noch keinem solchen Menschen begegnet – zumindest noch keinem wirklich Bösen -, aber die, die es taten, berichten unisono von Atembeklemmung und mehr durch deren schiere Präsenz. Mir reicht es, die Nachrichten zu verfolgen. Das Ausmaß an völliger Empathielosigkeit und Verrohung, das manche Zeitgenossen zeigen, lässt da wenig Interpretationsspielraum.


VV: Gibt es das Böse an sich?

TF: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube ja auch nicht daran, dass es das Gute an sich gäbe. Auch wenn ich das Konzept der Dualität theoretisch durchaus spannend finde. Aber was böse und gut ist, ist letztlich abhängig von unserer Biologie, unserer Psychologie und unserer Sozialisation. Ich glaube daran, dass wir als intelligente Primaten reflektierte Entscheidungen treffen – und dass uns die Folgen unserer Entscheidungen absolut bewusst sind. Wer Gutes tut, tut das ebenso reflektiert, wie jene, die Böses tun. Jene, die Böses tun, wissen ja auch, dass sie Böses tun – nur wägen sie den individuellen Nutzen ihrer Taten höher, als mögliche Folgen oder Sanktionen. Das „Böse an sich“ als Ausrede zu bemühen, ist genau das: eine billige Ausrede.


VV: War das Böse früher einfacher gestrickt als heute? Meinst du, deshalb sehnen wir uns vielleicht nach klassischen Gut-Böse Gegenüberstellungen?


TF: Da Böse und Gut Teil des philosophischen Denkens sind, zu dessen Verständnis aber auch ein gerüttelt Maß Bildung und Aufklärung gehört, war die Vorstellung darum früher vermutlich tatsächlich einfacher. Darstellungen von Engeln und Dämonen sind natürlich als Metaphern zu verstehen, aber selbst heute gibt es Zeitgenossen, die diese Metaphern sehr sehr wörtlich nehmen. Und Letzteres war in den alten Zeiten natürlich deutlich verbreiteter. Aber auch damals gab es Individuen, die diese Zusammenhänge sehr viel reflektiert betrachtet haben. Ob wir uns nun auch heute noch nach einer solchen Vereinfachung sehnen? Schwierig. Betrachtet man die Reaktionen einiger Zeitgenossen zu anderen komplexen Themen wie Flüchtlinge, Klimaschutz, Globalisierung etc. müsste man die Frage vermutlich mit Ja beantworten. Komplexität ist anstrengend und überfordert viele Menschen. Als reflektiert denkender Mensch ist mir das aber zu einfach. Denn auch ich fühle mich ja von Horrorfilmen und -literatur angesprochen. Und ich empfinde den empfundenen Schauer als letztlich aufregend und angenehm. Ich denke, das liegt an den uns innewohnenden Urinstinkten, die dadurch wachgerufen werden. Und ja, sicher auch an der jedem von uns innewohnenden Infantilität. Geschichten unterhalten uns aber nicht bloß, wir versuchen aus Geschichten immer auch zu lernen. Im Rahmen einer Erzählung hilft es daher, die Komplexität der Realität auf einfache Stereotypen und Grundmuster zu reduzieren. Was im Umkehrschluss jedoch nicht bedeutet, dass man die Komplexität der Realität darüber vergisst. Ganz im Gegenteil.

VV: Zum Schreiben an sich … feste Rituale, feste Zeiten, oder schreibst du nur, wenn dich die Muse küsst?


TF: Ich werde vor allem dann aktiv, wenn mich ein Abgabedatum plagt. Michael Ende meinte mal in einem Interview, dass er zu den Autoren gehöre, die immer lieber ‚geschrieben haben‘ als ‚zu schreiben‘. Ich musste damals sehr über diese Äußerung lachen, denn ich erkenne mich darin wieder. Schreiben ist manchmal überaus anstrengend und quälend. Ich brauche immer wieder erneut einen Impuls, um loszulegen. Wenn ich dann aber einmal angefangen habe, überkommt es mich wie ein Rausch. Dann muss ich die Geschichte zu Ende bringen – wobei ich dann zwischen drei und vier Monaten für einen Roman von ca. 450 Seiten benötige. Feste Arbeitszeiten habe ich nicht, aber ich schreibe dann jeden Tag viele Stunden bis gern tief in die Nacht hinein, wenn es schön ruhig ist, kein Telefon bimmelt und auch kein Postbote vorbeikommt. Nur ich, mein Kaffee oder Tee und meine Zigaretten. Und wahnsinnig Bock drauf, andere möglichst gut zu unterhalten.


VV: Ich kenne dich noch aus deiner aktiven DSA-Zeit (Das schwarze Auge/Pen&Paper Rollenspiel) und habe deine geschriebenen Abenteuer gespielt. Spielst du noch?


TF: Ja. Regelmäßig jeden Donnerstag – und auch darüber hinaus so häufig ich kann. Fantasy-Rollenspiele sind ein wunderbares Mittel, um in beliebige fremde Welten abzutauchen, und das meiste, was ich über Dramaturgie und Erzählkunst gelernt habe, entstammt dieser Leidenschaft. Meine Romane „Weißer Schrecken“ und „Dark Wood“ waren übrigens ursprünglich Rollenspielszenarien, die ich dann aufgebohrt und massentauglich gemacht habe.


VV: Du bietest mit Kollegen und Kolleginnen auch Schreibworkshops an. Übrigens sehr, sehr gute, kann ich aus eigener Erfahrung sagen und wenn du in Fahrt kommst, „performst“ du deine Ideen immer sehr beeindruckend. Hast du ein paar goldene Schreibregeln?

TF: Danke, danke. Die Lust aufs Performen entstammt natürlich ebenfalls dem Rollenspiel. Mir als

Teilnehmer macht das Zusehen und -hören ja auch mehr Spaß, wenn der Dozent etwas Show bietet. Schreibregeln? Puh. Schreiben lernt man letztlich nur durchs Schreiben. Egal was, alles beflügelt sich gegenseitig. Regel 1 wäre da vielleicht: Finde deinen eigenen Stil und verschwende deine Zeit nicht damit, andere nachzuahmen. Regel 2: Plotte deine Geschichte vorher, nicht erst während des Schreibens. Da hast du noch genug anderes zu tun. Regel 3: Rede dich nicht mit Schreibblockaden heraus, wenn es mal nicht flutscht. Geschichten fallen nicht vom Himmel und Musen gibt es nicht. Erinnere dich an Regel 2, denn offenbar hast du es dir vorher zu einfach gemacht.


VV: Was steht bei dir in Zukunft an? Wird es weiterhin Horror von dir geben?


TF: Aber ja. Nächstes Mal geht es mehr in internationale Gewässer … was du wortwörtlich verstehen darfst J


VV: Vielen Dank, Tom. Ich drücke dir die Daumen bei der Verleihung!


TF: Dank euch für euer Interesse.


Und hier wieder die …

Bullets (Wie aus der Pistole geschossen …)


VV: Bester Horrorfilm?

TF: Gleich zwei: „Bis das Blut gefriert“ und „The Ring“


VV: Bier oder Wein?


TF: Wein


VV: Guter Horror ist für mich wie …

TF: … Joggen. Anstrengend aber immer wieder sehr befriedigend.


VV: Berge oder Meer?

TF: Meer.

VV: Lovecraft oder King?

TF: Lovecraft


VV: Haunted House oder Backwoodslasher?

TF: Haunted House


VV: Deutschsprachiger Horror in der Literatur ist …?

TF: … wie das Salz in der Suppe, immer besser geworden, reich an tollen Einfällen, die Krönung der Erzählkunst
J


VV: Krassester Horrorfilm?

TF: Ebenfalls „The Ring“.


VV: Frauen haben Angst vor … ? Männer haben Angst vor …?

TF: … schlechten Spielrunden. Sorry, ich bin durch und durch Rollenspieler
J


VV: Wer inspiriert dich?

TF: Literarisch: Barbara Hambly, Tim Powers, Helmut Rellergerd (alias Jason Dark). Politisch: Angela Merkel, Robert Habeck, Barack Obama &
Sahle-Work Zewde. Gesellschaftlich: Greta Thunberg, Sophie & Hans Scholl, Greenpeace. Shit … ich befürchte, mit mindestens einer der Nennungen habe ich mich soeben aus dem Rennen katapultiert.

Schade auch …


VV: Du bist eine Horrorfigur. Wer wärst du dann?


TF: Ein fieser Harlekin …

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