Alessandra Reß (Interview)

 

Foto von Pablo Lachmann

Michael Schmidt: Hallo Alessandra, stell dich doch bitte mal vor!

 Alessandra Reß:  Hallo zusammen. Mein Name ist Alessandra Reß, ich schreibe seit inzwischen etwa 20 Jahren für verschiedene Magazine, Fanzines, Online-Portale und Co. über Phantastik. Seit 2011 sind zudem einige Romane und Kurzgeschichten aus meiner Feder in verschiedenen Verlagen erschienen. In sozialen Netzwerken bin ich meist als FragmentAnsichten unterwegs, was auch der Name meines Blogs ist. Hauptberuflich bin ich im Bereich E-Learning an einer Hochschule tätig.

 


Michael Schmidt: Dein Artikel Sonnenseiten, Sonnenzeiten. Geschichte und Entwicklung des Solarpunk ist für den Rein A. Zondergeld Preis nominiert, einem neuen Award, der die besten Artikel und Sachbücher der Phantastik auszeichnen möchte.

Alessandra Reß: In der Tat, und es freut mich sehr, dass er dort Berücksichtigung gefunden hat.

Michael Schmidt: Worum geht es in Sonnenseiten, Sonnenzeiten. Geschichte und Entwicklung des Solarpunk?

Alessandra Reß: Die Münchner Schreiberlinge, ein Verein für – ich zitiere mal von deren Website – „Menschen, die das geschriebene Wort lieben“, geben regelmäßig Themen-Anthologien heraus, denen jeweils ein Einführungsessay vorangestellt wird. Sonnenseiten, Sonnenzeiten ist der entsprechende Essay der Sonnenseiten-Anthologie, in der Kurzgeschichten versammelt wurden, die Solarpunk und Street-Art miteinander verbinden. Mein Essay gibt allen, die mit Solarpunk als Bewegung oder Subgenre noch nicht vertraut sind, einen Überblick über dessen Entwicklung von der ersten Erwähnung 2008 bis heute. Solarpunk wiederum ist eine Utopie-Bewegung, die sich rund um die Großthemen Nachhaltigkeit, erneuerbare Energien und Gesellschaftsentwicklung rankt. Sie deckt von der Literatur über Kunst bis hin zu Urban Gardening oder Freiem Wissen verschiedene Bereiche ab und ist literarisch vornehmlich ein Teil der Hard Science Fiction.

Michael Schmidt: Punk wird ja mittlerweile recht inflationär den diversen phantastischen Genres zugeordnet. Was genau ist der Punk bei Solarpunk?

Alessandra Reß: Solarpunk entstand zunächst in direkter Anlehnung an Steampunk – das Punk-Suffix diente also vornehmlich dazu, die Verwandtschaft zu beschreiben. 2014 veröffentlichte Adam Flynn dann die „Notes towards a manifesto“, in denen er versuchte, die wabernden Vorstellungen rund um Solarpunk auf einen Nenner zu bringen. Er sprach darin von „infrastructure as a form of resistance“, was die verschiedenen Punk-Begründungen, die im Laufe der Zeit (in Bezug auf Solarpunk) entstanden sind, meiner Meinung nach immer noch am besten auf den Punkt bringt. Grob gesagt geht es also darum, Bedingungen zu schaffen, die (im wahrsten Sinne des Wortes) nachhaltig ein „gutes“, möglichst gerechtes Leben auf der Erde ermöglichen; der hier als „punk“ verstandene Widerstand kann sich dabei z. B. gegen kapitalistische Interessen richten, wo diese dem Ideal entgegenstehen.

Michael Schmidt: Wie wichtig findest du persönlich Sekundärliteratur zur Phantastik? Nützliches Zubrot oder unabdingbare Begleitung phantastischer Texte?

Alessandra Reß: Zweiteres. Primärliteratur ist – etwas hochtrabend gesprochen – immer ein Erzeugnis kultureller Codes, Werte und Normen, die sich z. B. in Szenen oder Genres entwickelt haben. Selbstverständlich kann man Prosa lesen und genießen, ohne sich mit all dem zu beschäftigen. Aber sobald man sich in den Diskurs begibt, finde ich es wichtig (und reizvoll), sich solche Hintergründe bewusst zu machen und Inhalte in Kontext zu setzen. Hier kommt Sekundärliteratur ins Spiel. Darüber hinaus bietet sie idealerweise eine Chance, Orientierung zu geben in dem Wirrwarr aus teils widersprüchlichen Mythen, die in den Weiten des Netzes herumgeistern.

 


Michael Schmidt: Deine ersten schriftstellerischen Schritte, zumindest die, die ich wahrgenommen habe, waren beim Art Skript Verlag, dort hast du auch einen Roman veröffentlicht. Worum geht in Vor meiner Ewigkeit und wie siehst du den Roman im Abstand von bald zehn Jahren?

Alessandra Reß: In Vor meiner Ewigkeit geht es um einen Vampirjäger, der nur bruchstückhafte Erinnerungen an sein früheres, „normales“ Leben hat, jedoch versucht, zu diesem zurückzukehren.

Nach zehn Jahren entdecke ich natürlich schon Schwächen an dem Buch. Ich habe es seinerzeit sehr „naiv“ geschrieben, ohne mir groß Gedanken um Erzählstrukturen oder Ähnliches zu machen. Zudem war es ursprünglich ein Kurzroman von nicht einmal 100 Normseiten, den ich „aufgebauscht“ hatte, nachdem ich ihn mit seiner ursprünglichen Länge nicht bei Verlagen unterbringen konnte. Als ich ihn vor drei Jahren noch mal gelesen habe, fiel mir das stark auf. Der Anfang hat ein paar synästhetische Stellen, das gefällt mir nach wie vor sehr gut, und ich mag die beiden Hauptfiguren. Einiges würde ich heute jedoch anders schreiben bzw. schlicht wegkürzen.


Michael Schmidt: Fünf Romane sind mittlerweile aus deiner Feder erschienen, alle bei einem anderen Verlag. Hat das einen bestimmten Grund?

Alessandra Reß: Nein, das ist eher Zufall. Mit den meisten Verlagen habe ich auch noch an anderen Stellen zusammengearbeitet, etwa für Anthologien. Aber es hat einfach nicht jedes Projekt zu jedem Verlag gepasst oder manchmal war das Programm schon auf die nächsten zwei oder drei Jahre voll, also bin ich zum nächsten. Z. B. hätte Spielende Götter – schreibchronologisch mein zweiter eigenständiger Roman – nicht zum Programm meines Debütverlags Art Skript Phantastik gepasst, die damals auf Dark Fantasy sowie Steampunk spezialisiert waren.

Streng genommen sind es auch nur vier eigenständige Romane – der fünfte, Sommerlande, gehört zum Herbstlande-Shared-Universe und war damit mehr oder weniger eine Auftragsarbeit für den Torsten Low Verlag (auch wenn ich die Handlung frei entwickeln konnte).

 


Michael Schmidt: Neuster Roman ist Die Türme von Eden, erschienen im Lindwurm Verlag. Worum geht es da?

Alessandra Reß: Vor einigen Jahren hatte ich eine Space-Fantasy-Kurzgeschichte geschrieben, Neophyt auf Eden (erschienen in der ohneohren-Anthologie Intergalaktisches Seemannsgarn). Darin wird die im Sterben liegende Protagonistin auf den Planeten Eden gebracht, wo Menschen, die sich im Leben durch besondere Taten hervorgetan haben, angeblich als unsterbliche Engel wiedergeboren werden. Die Türme von Eden spielt nun einige Jahrzehnte nach dieser Kurzgeschichten-Handlung in derselben Welt. Zwei Menschen – ein Spion und eine Frau, deren Bruder nach Eden gebracht wurde – versuchen herauszufinden, was es tatsächlich mit dem Mythos um die Space-Engel auf sich hat. Denn Sterblichen ist es normalerweise verboten, den Planeten Eden zu betreten, entsprechend weiß bisher kaum jemand, ob es Engel tatsächlich gibt.

 


Michael Schmidt: Welche deiner fünf Romane ist dein Favorit?

 Alessandra Reß: Spielende Götter ist mein Favorit. Der Roman ist 2015 bei ohneohren erschienen und kam kürzlich im Dezember bzw. Januar in einer überarbeiteten Neuauflage noch mal an selber Stelle heraus. Es ist ein Virtual-Reality-Roman, der zur Hälfte in einer klassischen High-Fantasy-Welt spielt, zur anderen Hälfte in einer nicht näher definierten Zukunftsgesellschaft. Mir gefällt die Mischung, weil sie mir die Möglichkeit gegeben hat, Fantasyklischees mit einer Art romantischer Ironie zu betrachten. D. h., ich nehme das Setting ernst, reflektiere es aber zugleich aus heutiger Perspektive (bzw. 2010er-Perspektive). Ich denke, man merkt dem Roman außerdem an, dass ich damals viel Spaß daran hatte, ihn zu schreiben.

 


Michael Schmidt: Woran arbeitest du im Moment?

Alessandra Reß: Momentan arbeite ich vornehmlich an zwei sekundärliterarischen Texten. Nebenher überarbeite ich zwei Romane – eine Urban Fantasy, deren Rohfassung ich im März beendet habe, und einen in Frankreich spielenden Jugendroman, der in seiner Erstfassung schon 2017 entstanden ist. Im Laufe des Jahres sollen noch zwei Gemeinschaftsprojekte mit meiner Beteiligung herauskommen, einmal Portal Fantasy und einmal Dreampunk (ja, noch so ein Punk). 

 


Michael Schmidt: Du hast auch bei Serien wie Larry Brent und D9E mitgeschrieben. Wie unterscheidet sich die Arbeit an einer Serie im Vergleich zu der Arbeit an den fünf Romanen und ist es auch wohltuend, sich in eine fremde, vorgefertigte Welt zu begeben?

Alessandra Reß: Bei Serien arbeitet man sich meist erst einmal durch das Quellenmaterial, das die Hintergründe und stilistischen Besonderheiten erklärt, die alle beachten müssen, die bei den Serien mitschreiben. Bei Larry Brent mit seiner jahrzehntelangen Historie war das sehr viel, bei D9E waren es nur wenige Seiten, weil ich an der damals neu gestarteten Spin-off-Reihe Der LoganischeKrieg mitgeschrieben habe. Bei beiden gab es zudem Redakteure, die über die Kontinuität gewacht haben und bei D9E hatte ich über Trello einen ständigen, direkten Austausch mit den übrigen Mitwirkenden. Vor allem eine Serie wie D9E, in der die Bände inhaltlich direkt aufeinander aufbauen, ist dann schon etwas stressig in der Ausführung, da man nicht nur an den eigenen Büchern, sondern ein Stück weit auch an denen der anderen mitarbeitet.

Trotzdem hat es seinen eigenen Reiz. Ich finde es immer faszinierend, zu sehen, wie sich Projekte unter Team-Arbeit entwickeln, wenn verschiedene Köpfe ihre Ideen einflechten. Oder zu beobachten, wie man selbst eine Mischung aus dem eigenen Stil und dem der Reihe entwickelt. Außerdem finde ich es nett, in ein riesiges Universum wie das von Larry Brent ein paar neue Details eingearbeitet zu haben.

 


Michael Schmidt: Was liest du selbst am liebsten?

Alessandra Reß: Mein Lieblingsautor ist Joey Goebel, der … wie nennt man so etwas, satirische Gegenwartsromane (?) schreibt. Aber am liebsten lese ich schon Fantasy und Science Fiction, ohne mich hier auf ein Subgenre festlegen zu können oder zu wollen. Aktuell lese ich Uwe Posts „Klima-Korrektur-Konzern“ und C. J. Cherryhs „Stein der Träume“.

Michael Schmidt: Auf FragmentAnsichten widmest du dich auch der Phantastik-Szene. Wie ist dein Eindruck der deutschsprachigen Phantastik?

 Alessandra Reß: Sie ist auf jeden Fall lebendig und inhaltlich vielfältiger, als ihr viele zuzutrauen scheinen. Die deutschsprachigen Subszenen leben teilweise aber noch ziemlich aneinander vorbei, was sich z. B. bei Preisen und Awards immer wieder zeigt. Das hat auch positive Seiten, letztlich zeigt das schließlich wiederum die Vielfalt und es wäre schade, wenn nun bei jedem Award immer dieselben Titel nominiert würden. Es braucht jedoch ein Bewusstsein dafür, damit nicht alle immer nur in ihren Nischen hängenbleiben. Ich bin aber vage optimistisch und nehme wahr, dass sich viele Szeneakteure darum bemühen, die verschiedenen Ecken der Szene sichtbar zu machen und stärker miteinander zu vernetzen.

Michael Schmidt: Noch ein Wort an die Meute dort draußen!

Alessandra Reß: Wagt den Blick über den Tellerrand, lasst euch häufiger mal überraschen … und stimmt für Vincent Preis und RAZ ab!

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