Tobias Reckermann (Interview)
Michael Schmidt: Hallo Tobias, du bist für den Vincent Preis 2019 in der Kategorie
Sonderpreis und Storysammlung nominiert worden. Herzlichen Glückwunsch!
Tobias
Reckermann: Danke, Michael. Für den VP nominiert zu sein, ist eine Ehre, also
auch Danke an die werten Stimmberechtigten!
Michael
Schmidt: Bevor wir zum White Train kommen, stell dich doch mal persönlich vor!
Tobias
Reckermann: Ich bin so ein Typ, der schreiben muss. Ich lebe mit mit meiner
Frau und unserem Hund in Darmstadt, Hessen, auf einem Hügel, arbeite in einem
Job, der nichts mit Schriftstellerei oder meinem Studium in
Literaturwissenschaft und Philosophie zu tun hat, aber ohne den frei-kreativen
Umgang mit Geschichten, speziell Fantastik, vom eigentlichen Schreiben bis zur
Veröffentlichung, würde mir etwas Wesentliches fehlen. Drei Begriffe, die
erfülltes Schreiben für mich auf den Punkt bringen: Vision, Voice, Verity!
Ich glaube,
dass Fantastik eine der wenigen menschlichen Tugenden ist. Dabei denke ich eher
an Expansion als an Eskapismus. Was wären wir, wenn wir uns nicht wenigstens
vorstellen könnten wie es anders sein könnte als es ist?
Michael
Schmidt: Du bist für den White Train nominiert worden. White Train, NightTrain, was ist das alles und wie kam es dazu.
Tobias
Reckermann: Whitetrain ist ursprünglich ein lokales Autorenkollektiv, das sich
über die Jahre räumlich uns personell ausgeweitet und in einen Kleinstverlag
verwandelt hat. Um die Entwicklung kurz in Stichpunkten nachzuzeichnen: von
freier Lesebühne über szenische Lesungen hin zur Herausgabe eines Magazins und
schließlich von Büchern im Großbereich Fantastik.
Für mich war
die Idee eines Kleinverlags immer die, Sachen zu veröffentlichen, die sonst
kaum jemand macht, und wenn man spezielle Interessen innerhalb der Fantastik
auch noch mit Philosophie und dergleichen verbinden will, hat man ein ziemlich
weites Feld fast allein für sich. Wozu, mal ehrlich, sollten wir Bücher machen,
die auch ein Verlag wie Heyne oder Bastei herausbringen würde? Whitetrain war
nie auf ein bestimmtes Genre innerhalb der Fantastik festgelegt, wir haben im
IF Magazin zum Beispiel chinesische Kung Fu-Fantasy und Superhelden (als
literarische Form) so ziemlich als erste in Deutschland beleuchtet. Nighttrain
hingegen ist ein für Horror und Weird Fiction eingerichtetes Imprint.
Michael
Schmidt: Next Weird und Nachtschatten sind Bände mit überwiegend Übersetzungen,
Windschatten dagegen ein rein deutschsprachige Produktion. Welcher der Bände
ist dein persönlicher Liebling und hat man als Herausgeber auch
Lieblingsgeschichten?
Tobias
Reckermann: Von diesen dreien mag ich Next Weird am liebsten. Windschatten
und Nachtschatten sind wichtige und liebenswerte Ergänzungen, aber Next
Weird ist die Verwirklichung der für alle drei Bände zentralen Idee. Hier
sind Übersetzungen von Autoren eines aktuell extrem lebendigen Genres, der
zeitgenössischen Weird Fiction, versammelt, das im deutschsprachigen Raum
schwer unterrepräsentiert ist. Zur Frage der Lieblingsgeschichten: Ich mag sie
natürlich alle, aber Alectryomancer von Christopher Slatsky (Next
Weird) und Das Infusorium von Jon Padgett (Nachtschatten)
sind in meinen Augen absolut erstklassig.
Tobias
Reckermann: Ja, da liegt ein großer Schwerpunkt für mich. Nett, dass Du meinen
von Jeff VanderMeer entlehnten Begriff Next Weird als Genrebezeichnung
aufgreifst. Hier verbinden sich viele meiner Interessen. Ich habe das Gefühl, dass
hier beständig Grenzen des Denkbaren und Beschreibbaren erweitert werden. Das
ist derzeit die Avantgarde der Fantastik.
Michael
Schmidt: Ich habe was läuten gehört dass dieses Jahr drei Bände beim Train
erscheinen soll. Vorher hieß es eigentlich das war es. Klär uns doch mal auf
was ihr aktuell geplant habt und auf was man sich freuen darf.
Tobias
Reckermann: Wir hatten 2019 angekündigt, unsere laufenden Reihen, das IF
Magazin und die Nighttrain-Anthologien, zum Abschluss zu bringen, und dabei
bleibt es auch, zumindest bis auf Weiteres. Dass wir für das 10-Jährige des
Whitetrain noch ein paar Veröffentlichungen vorbereiten, ist da auch schon
angeklungen – tatsächlich sind es für 2020
sogar vier Projekte.
Also der
Fahrplan: Den Auftakt im Frühjahr macht Erik Andaras zweite Storysammlung, Hotel
Kummer. Dann haben Erik und ich die Briefnovelle Lieber Herr Mordio –
eine Kolportage in Vorbereitung. Hier treffen zwei Schriftsteller an der
Grenze zwischen Biographie und Fiktion aufeinander, also genau dort, wo es am
weirdesten ist. Zusammen mit Ina Elbracht, Erik Andara, Christian Eschenfelder
und Felix Woitkowski arbeite ich derzeit noch an einem Novellenkreis,
Arbeitstitel: Die Zeit der Feuerernte. Auch das ist ein Weird-Projekt
und ich bin persönlich schwer begeistert davon, wie sehr hier fünf Köpfe in
eins gehen, und von der atmosphärischen Dichte der einzelnen Erzählungen. Als
Überraschungsgast – den ich hiermit ankündigen darf – hat sich schließlich
Michael Perkampus mit seiner Storysammlung Mummenschanz in großen Hallen
für die Jubiläumsfahrt eingereiht. Wer Perkampus als Autor kennt, weiß, dass
hier ein stilistisches Ausnahmebuch zu erwarten ist.
Wir sind
jetzt seit zehn Jahren dabei, und meinem Gespür nach erreichen wir 2020 mit den
genannten Projekten noch ein Extralevel. Alle beteiligten Autoren sind meines
Erachtens angehende Meistererzähler.
Michael
Schmidt: Neben den Anthologien hat der Train auch Romane und Storysammlungen im
Gepäck. Stell doch mal diesen Teil eures Programmes vor!
Tobias
Reckermann: Da sind erst einmal meine eigenen Bücher erschienen. Anthologien
haben wir nie so recht als unser Geschäft empfunden, wobei die Bücher der
Nighttrain-Reihe thematisch motivierte Ausnahmen darstellen. Es gab und gibt es
in der Richtung einfach zu wenig im deutschsprachigen Raum. Die erste
Storysammlung von Erik Andara sowie eine Novelle von ihm und sein Debütroman
sind hier zu erwähnen. In einer Hinsicht war Whitetrain von Anfang an als
Sprungbrett für Autoren hin zu größeren Verlagen und größerem Publikum gedacht.
Ich denke, Erik ist inzwischen auf einem guten Weg dahin.
Insgesamt,
denke ich, kann sich das Sortiment sehen lassen.
Michael
Schmidt: Du schreibst selbst und hast schon verschiedene Sammlungen deiner
Geschichten veröffentlicht. Eine erschien bei Blitz, die andere bei White
Train. Gibt es dafür einen Grund?
Tobias
Reckermann: Ich hatte nie die Absicht, meine Bücher ausschließlich selbst zu
verlegen. Mit dem Band bei Blitz erreiche ich wahrscheinlich auch mehr Leser
und mit Jörg Kägelmann als Verleger und Jörg Kleudgen als Lektor und Herausgeber habe ich sehr gerne
zusammengearbeitet.
Michael
Schmidt: Gotheim an der Ur ist ja in
der Endrunde des Vincent Preis 2019. Sind die Geschichten
inhaltlich zusammen hängend und wie kam es zu dem Buch?
Tobias
Reckermann: Die Erzählungen hängen zusammen, ja. Alle teilen den Schauplatz
Gotheim miteinander und behandeln denselben Themenkreis kosmischen Schreckens.
Es gibt da eine übergreifende Erzählstruktur und inhaltliche Verbindungen, also
ist es zwar kein Roman, aber auch nicht „nur“ eine Sammlung von Storys.
Die
Initialstory für den Band ist auf eine Einladung von Eric Hantsch hin
entstanden, für die Lovecraft-Reihe bei Thorsten Low zu schreiben. Wie sich
herausstellte, gab es da aber ein Missverständnis bei der Themenvorgabe und ich
habe die Story dann an Jörg Kleudgen weitergegeben, für die Lovecraft-Reihe bei
Blitz. Jörg war davon begeistert und brachte mich dazu, mehr zu Gotheim zu
schreiben.
Also
manchmal entstehen Bücher aus dankenswerten Missverständnissen und einem Schubs
von der richtigen Seite. Wie es inhaltlich gerade zu Gotheim gekommen ist und
warum ich mit der Stadt noch nicht fertig bin, steht auf einem anderen Blatt.
Ich glaube, Gotheim ist mein ganz persönliches Haunting.
Michael
Schmidt: Neben IF und dem White Train veröffentlichst du ja auch in Anthologien
und Magazinen wie Nova. Da kommt ja im Laufe der Jahre einiges an Geschichten
zusammen. Hast du einen oder mehrere persönlichen Favoriten bei deinen Babys?
Tobias
Reckermann: Irgendwie liebt man doch alle Babys gleichermaßen, wenn auch aus
verschiedenen Gründen. Die Sammlung Rumors Fährte (2019) ist vielleicht am
ehesten repräsentativ für meine Schwerpunkte und deckt immerhin fünf Jahre
meines Schreibens ab, stellt allerdings auch wiederum einen Ausschnitt dar, bei
dem einige Genre, mit denen ich mich befasst habe, außen vor bleiben.
Jedenfalls finden sich hier ein paar meiner Lieblinge, zum Beispiel die
Erzählung Machina Obscura, die zuvor in Miskatonic Avenue bei der
Edition Phantastikon erschienen ist. Die innere Finsternis (Gotheim
an der Ur) und Die Schwertweisen, aus der Sammlung Graund
(2016), sind aber auch gleich hinter der Lokomotive dabei.
Michael
Schmidt: Wie sieht es mit einem Roman aus?
Tobias
Reckermann: Drei sind es bisher: Das Schlafende Gleis, Langfaust und
Die zwei Schneiden des Glücks, alle bei Whitetrain und thematisch eher
dunkle Fantasy als Horror. Derzeit fällt es mir aus Zeitmangel schwer, mich auf
so ein Projekt zu konzentrieren, aber da schwebt immerzu etwas im Hinterkopf.
Speziell für Weird Fiction und Horror sehe ich eher Novellenlänge als ideal. Da
arbeite ich gerade an einer Sache, die sich vielleicht noch zu einem
Fortsetzungsband für Gotheim auswächst. Wünsch(t) mir damit etwas Glück!
Michael
Schmidt: Du bist ja nicht nur Autor, sondern auch Herausgeber, Verleger und
Kenner der Szene. Wie würdest du die internationale Horror/Weird Fiction Szene
beschreiben und welche Autoren und Bücher empfehlen?
Tobias
Reckermann: Die internationale Horrorszene ist vor allem mannigfaltig. Was
Weird Fiction, Strange Fiction und philosophischen Horror betrifft, denke ich,
ist die Szene gerade dabei, erwachsen zu werden. Ich habe für Next Weird
ein Vorwort mit einer umfangreichen Leseliste geschrieben, das auf www.nighttrain.whitetrain.de
auch online abrufbar ist. Dort fehlt noch das Werk von Joel Lane, den ich erst
später für mich entdeckt habe, und von Christopher Slatsky gibt es aktuell eine
neue Storysammlung, die ich sehr empfehlen kann. Außerdem sollte man Vastarien:
A Literary Journal (Grimscribe Press) im Auge behalten.
Michael
Schmidt: Und im deutschsprachigen Raum?
Tobias
Reckermann: Es gibt Perlen. Susanne Röckels Der Vogelgott, das Romanwerk
von Georg Klein. Thronos von Rainer Zuch bei Goblin Press, die
Visionarium-Reihe ... Da sehe ich was, das über das „bloß Genremäßige“ hinausgeht.
Im Großen
und Ganzen ist die Szene einfach Liebenswert, manchmal etwas infantil, aber ich
will da nichts kleinreden. Es gibt wirklich eine Vielzahl von engagierten
Leuten, die ihrer Vision folgen, Jörg Kleudgen, Thomas Hofmann, Michael
Perkampus, Michael Iwoleit und andere Leute (die Liste ist lang!), die mit
Herzblut dabei sind und auch mich unterstützt haben. Dazu kommen Autoren mit
viel Potential. Ich fühle mich geehrt, einige davon, wie die großartige Ina
Elbracht, im IF Magazin präsentiert haben zu dürfen. Ich glaube, die Szene
funktioniert als Netzwerk gegenseitiger Unterstützung recht gut, und man hat
Spaß dabei. Das ist das Wichtigste.
Michael
Schmidt: Was fehlt der deutschsprachigen Phantastikszene?
Tobias
Reckermann: Literarische Sprengkraft. Der Wille zur gesellschaftlichen Relevanz
und zur Genreüberschreitung. Ich denke, das liegt vor allem an der
vergleichsweise geringen Anzahl von Akteuren. Im englischsprachigen Raum etwa
gibt es eben ganz einfach mehr Kreative und Rezipienten.
Michael Schmidt:
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Tobias
Reckermann: Allgemein: Friede den Hütten. Als Schriftsteller: Immer im Flow des
Erzählens zu sein.
Michael Schmidt: Noch ein Wort an die Meute dort draußen?
Tobias
Reckermann: Abrakadabra, und viel Spaß beim Lesen!
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