Marcus Richter – Feuerhaut



Marcus Richter ist mir zum ersten Mal auf der Literaturplattform ›Leselupe‹ über den Weg gelaufen. Mit jeder Geschichte wuchs die Faszination über den Autor mehr. »Die Unbefleckte Empfängnis – die lange Version« war dann die Initialzündung für den Auftaktband der Leselupenreihe »Die dunkle Seite«. Zwischendurch von der Bildfläche verschwunden, feierte er mit »Subcutis« im von mir herausgegeben Magazin ›Phase X‹ Ausgabe 4 ein beeindruckendes Comeback, die umgehend für den Vincent Preis 2007 nominiert wurde.

 

Feuerhaut ist aus dem Magazin Zwielicht 2 und gewann den Vincent Preis 2010. Ob zu Recht, davon kann sich der Leser hier selbst überzeugen.

Die beigefügte Illustration ist von Lothar Bauer.



 

Marcus Richter – Feuerhaut


 

"A ssejfer on a hakdome is wi a guf on a neschome.”

 Ein Buch ohne Vorwort ist wie ein Körper ohne Seele.

 

Als der Besucher das Zimmer betritt, hört er des Kinderatems Flüstern. Der kleine Brustkorb hebt und senkt sich wie ein Uhrwerk. Wie ein kleiner, prustender Mechanismus.

Ein und aus, wispert´s aus den Lungen.

Ein und aus.

Und er lauscht und riecht den warmen Atem, der von den schmalen Lippen fort geblasen wird.

Macht einen großen, gespreizten Schritt und bleibt plötzlich starrend stehen, als das Kind sich einen Augenblick im Schlaf bewegt. Und sieht sich um.

Der Kleiderschrank steht offen, und die Schnürsenkel kleiner Schuhe lugen heraus. Auf dem Tisch am Fenster steht ein Glas mit Wimpeln. Eine Autorennbahn, ein Schaukelpferd, daneben ein Ball, hingerollt.

Er betrachtet alles sehr aufmerksam und wendet den Kopf abermals dem Jungen zu, der schon wieder ruhig seinen heißen Atem bläst.

Dann macht er einen zweiten Schritt, noch gewaltiger als den ersten, legt die Hand an die Bettdecke und zieht sie vorsichtig zurück.

Dann das Benzin. Ganz langsam. Ganz vorsichtig aufgeträufelt. Die Pupillen des Kindes bewegen sich unter den Augenlidern hin und her, während er die Flüssigkeit wie Weihwasser verteilt. Von rechts nach links. Wie das Pendel einer Uhr, die die Sekunden rückwärts zählt.

Und Stille; seelenruhige Stille.

Er hebt die Hand und schnippt mit den Fingern.

 

„Es werde Licht, mein Kind“, flüstert er und beugt sich über das ahnungslose Bündel, das langsam aus dem Schlaf erwacht.

„Es werde Licht …“

 

 

„Geh einfach, Gaspar.“

Elli hat sich von ihm abgewandt, bevor er sie mit den Fingerspitzen berühren kann.

Alans Hand fährt ihm kraftvoll in den Unterarm.

„Lass sie in Ruhe!“ Sein englischer Akzent ist Gaspar schon immer auf die Nerven gegangen.

„DU WICHSA NIMMST SIE MIR NICHT WEG!!“

Einen Augenblick versucht sich Gaspar gegen Alan zu stemmen und die kraftvollen Unterarme auseinander zu brechen. Aus dem linken Auge weint er, als Alan seine Gegenwehr zum Erliegen bringt.

 

„Geh einfach, Gaspar“, flüstert Elli, ohne ihn anzusehen.

Gaspars Augen funkeln wütend zu Alan, dann zu Elli und schließlich auf seine vernarbten Hände, die manchmal so tot und metallisch wirken, wie die des Terminators.

Gaspar sieht zur Seite.

„Sag mir, dass es nicht mein Gesicht ist, Elli. Sag, dass ich ein Mistkerl bin und deine Freundschaft nicht verdient habe.“

„Aber das hast du!“

Gaspar spürt eine Wut in sich aufsteigen, die einem Feuer gleicht.

„SAG ES!“, zischt er.

„Hör auf, Gas!“

Gaspar macht einen Schritt auf sie zu und ängstlich zuckt die junge Frau zusammen.

 

„Mistkerl“, schreit sie plötzlich. „Elender Mistkerl!“

Sie bricht in Tränen aus, verliert den Halt und Alan greift sie gerade noch bei den Schultern und drückt sie an sich.

„Es reicht jetzt“, sagt er leise und bedrohlich, als Gaspar zur Schrankwand geht und seine Skimaske aus dem Regal reißt.

Er streift sich die schwarze Wollmaske über den Schädel, so dass nur noch die Augen zwischen den Schlitzen zu sehen sind.

„Ich hätte sie niemals abnehmen sollen, Elli“, sagt er, während Elli vor Alan in die Knie geht und da sitzen bleibt.

Gaspar sieht den hoch aufragenden Alan, der sich nieder bückt und die zierliche Frau abermals in die Arme nimmt.

 

„Pass auf sie auf, Arschloch“, flüstert Gaspar und zeigt mit dem narbigen Finger auf ihn.

Dann dreht er sich um und flüchtet in die Nacht.

 

 

Wenn man etwas über das Feuer sagen kann, dann dass es schnell kommt, und dass es nicht wartet, wie ein Köter vor dem Haus, an der Leine. Ein Bullterrier kann sich von seinem Herrn innerhalb eines Augenblickes losreißen und ist in wenigen Sekunden über dir, beißt sich fest, reißt dich zu Boden und geht dir dann an den Hals und ans Gesicht. Wie ein Schnappfrosch schlägt das Gebiss vor deinen Augen wieder und wieder zu, bis du nur noch Blut siehst und dann gar nichts mehr.

Blut siehst du beim Feuer überhaupt nicht und du riechst nur dich selbst und spürst, wie deine Haut zu schreien anfängt, während dir das Feuer die Luft aus den verdammten Lungen saugt.

Dann brennt es dort auch.

 

Es brennt überall an dir.

 

Gaspar bleibt stehen. Neben ihm jault eine Polizeisirene auf. Dann schlägt sein Kopf gegen die Häuserwand und sein Arm wird so verdreht, dass er in die vom Atem feuchte Wolle vor seinem Mund beißen muss, um den Schrei zu unterdrücken.

„Bist wohl auf Brautschau, Junge!“

Wichsa, hast keine Ahnung, wer ich bin!“

Eine Polizistin fummelt an seinem Parka herum, bis sie seinen Ausweis findet.

„Scheiße, Gunnar, lass ihn los.“

Aber der Polizist, der Gaspar den Arm verdreht, lässt ihn nicht los. Er wirbelt ihn herum, packt ihn am Hals und drückt ihn gegen die Fassade.

Mit einem Mal reißt er ihm die Wollmaske vom Kopf.

„Scheiße, verdammt!“

„Lass ihn los, hab ich gesagt!“

Hustend und würgend geht Gaspar in die Knie. Die Polizistin nimmt ihrem Kollegen die Maske ab und kniet sich zu dem Jungen.

„Tut uns Leid“, sagt sie, „tut uns wirklich Leid!“

Gaspar greift sich wortlos die Maske und streift sie sich hastig über.

„Ich bring euch alle in den Knast“, zischt er.

Der Polizist schlägt ihm, wie zur Warnung, mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Keine Mucken, Junge!“, raunt er. „Bloß weil du ein Narbengesicht bist, hast du hier lange nichts zu melden.“

Kichernd wendet sich Gaspar ab.

„Lass ihn in Ruhe!“

Die Polizistin streichelt Gaspars Oberarm und versucht ihm in die Augen zu blicken.

„Sollen wir dich irgendwohin mitnehmen?“, fragt sie.

Aber Gaspar reißt sich los und steht langsam auf.

„Braucht mich nicht mitnehmen“, krächzt er, „braucht mich keiner mitnehmen!“

 

Manchmal weinte Gaspar aus einem Auge und nicht wie früher aus beiden. Sie hatten ihm einen Tränenkanal wieder frei gelegt, weil irgend so ein Psychoheini der Meinung gewesen war, dass es für sein Seelenheil von Bedeutung war, weinen zu können. Sollte ihn wieder zu einem Menschen machen, oder so was ähnliches. Als ob das wichtiger war, als ein Gesicht zu haben oder Hände wie alle anderen.

Einmal war Nicki Lauda bei ihnen auf der Brandstation zu Besuch gewesen und hatte was von einem neuen Leben erzählt. Da hatte sich Gaspar einen Augenblick gewünscht, der Wichser wäre nur eine Minute länger in seinem brennenden Ferrari sitzen geblieben.

 

Gedankenverloren schiebt sich Gaspar am Türsteher des Schlachthofs vorbei. Es ist ein altes Gebäude, weit weg von der Innenstadt, überhaupt weit weg von der Stadt.

Weit weg vom Licht.

„Hast du Feuer, Alter?“

Gaspar dreht sich nicht mal um.

„Jede Menge, Mann!“, höhnt er und spuckt auf den schmutzigen, roten Teppich.

Ein Schrank von der Security will sich eben auf ihn zuwälzen, als der Türsteher ihn zurückpfeift.

„Lass ihn, der ist in Ordnung“, sagt er.

 

Der Türsteher ist so ein Typ, der früher mal einen ganz normalen Job hatte. Er arbeitete in einem Krankenhaus, genau in dem, in welchem Gaspar fast fünf Jahre lebte, bis sie das mit der verbrannten Haut in Ordnung hatten. Der Typ war damals schon so ein bulliger Kerl gewesen. Wie ein Boxer. Hatte nur nicht so gefährlich ausgesehen. Vielleicht weil er nicht gefährlich aussehen wollte. Oder musste.

Seitdem hat er ein Auge auf Gaspar. Lungert immer in seiner Nähe rum. Geht ihm auf die Nerven.

 

Gaspar drängelt sich an die Bar.

Nichts ist in Ordnung, denkt er. Alles Scheiße, alles vorbei! Neben ihm zündet sich jemand eine Zigarette an, und das Feuerzeug geht wie ein Flammenwerfer los.

„Hey, Scheiße, habt ihr das gesehen? Hätte mir die Haare abfackeln können …“, schreit er.

Gaspars Herz rast. Er sieht das Feuer, ist wie erstarrt und kann sich nur mit Mühe bewegen. Nach all den Jahren ist er immer noch nicht darüber hinweg. Kann es nicht sehen, kann es nicht riechen. Ein offenes Feuer, und sei es nur die Funzel von einem Feuerzeug, macht ihn zu einem Winzling. Zu einem Angsthasen. Es raubt ihm den Atem. Er beginnt zu würgen.

Gaspar taumelt wie ein Betrunkener davon.

Alles um ihn herum will sich in ein Flammenmeer verwandeln.

Er geht in die Knie, kriecht unter einen Tisch.

Gaspar schließt die Augen, versucht zu atmen,

versucht …

 

 

Es drückt sich einem immer was um die Füße herum, wie ein Hund, dem man einen Knochen zuwirft, damit er endlich still ist. Man hört das Winseln und ist angewidert von der Schwäche und Gebrechlichkeit der Promenadenmischung, die nie das Beißen gelernt hat, sondern immer nur das Winseln und das Kriechen. Wie bei einem Hund muss man sie schlagen, damit sie das Beißen lernen. Sie sind so schwach geworden, dass sie nicht mal einen Fußtritt ertragen oder einen Faustschlag in den Nacken. Etwas im Leben hat sie umgeworfen und sie zu einer Kreatur gemacht, die am Boden kriecht. Wie ein Gewürm.

Aber da ist noch etwas. Und es kocht in ihnen, und lauert und wartet darauf, dass man mit der Hand in die Seele hineingreift und es ans Tageslicht zerrt.

 

Damit es aufhört zu winseln, sage ich.

Damit es endlich aufhört!

 

Hast du das gesehen? Macht mir gar nichts, verstehst du?“

„Scheiße, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank!“

Die zwei Männer an dem Tisch, unter dem Gaspar hockt, bestellen nur das harte Zeug, und er hört die leeren Gläser wie Hämmer auf die Tischplatte knallen, wenn sie sie nach dem Austrinken lachend niedersausen lassen.

„Warte, ich zeig´s dir noch mal!“, schreit eine der Stimmen, die kratzig und unangenehm ist.

„Verdammt, hör auf mit dem Scheiß!“

Der Mann mit der unangenehmen Stimme fordert den anderen höhnisch auf, ihm noch eine Zigarette anzuzünden. Er will sie sich auf dem Handrücken ausdrücken, nur so zum Spaß. Der andere zögert. Er will aufstehen.

„Ich hau ab hier!“, lacht er. Dann wird er von dem mit der unangenehmen Stimme festgehalten, und Gaspar hört ihn nur ganz leise, als ob er ihm ins Ohr wispert.

„Du steckst mir jetzt `ne Kippe an, oder ich schwör dir, ich mach sie auf deinem Auge aus!“

Der andere setzt sich wieder, ohne zu antworten.

Ein Zippo klickt. Das leise Flackern des brennenden Benzins lässt aus Gaspars Stirn Ströme von Angstschweiß brechen.

Er hört das Knistern einer brennenden Zigarette, als wolle sie jemand mit einem Zug aufrauchen.

Dann zischt es, und der Gestank von verbrannter Haut will Gaspar betäuben. Er beginnt heimlich zu würgen. Kann es nicht kontrollieren. Und winselt.

„Da mache ich mir überhaupt nichts draus“, kommt die unheimliche Stimme von oben, „siehst du?“

„SIEHST DU DAS??!!“

Der Mann reißt den anderen zu sich herüber. Er ist nur ein Hund, und nichts weiter.

Scheiße, sag, dass du es siehst!“

 

Wie betäubt ist Gaspar aus dem Schlachthof entkommen. Der Geruch von verbrannter Haut klebt an ihm, wie ein Fliegenfänger, den er meterlang hinter sich herschleift. Der Übermut, mit dem er es zu tun bekommen hat, hat ihn tief in der Magengrube getroffen.

Er ist noch immer ein Opfer.

Er ist besiegt. Das Feuer raubt ihm alle Kraft.

Als er niedersinkt, fängt man ihn, und er hängt an einem zierlichen, aber kraftvollen Körper. Seine Hände klammern sich an kaltes Leder. Die Jacke ist der Frau etwas zu groß.

„Hey Junge, alles klar bei dir?“

Gaspar schaut sie an. Es ist die Polizeiwichserin. Sie sieht anders aus. Nicht mehr so erhaben.

Sie hält seinen Kopf, während er an ihr hängt, wie das Schlachtvieh am Haken. Ohne Mühe greift ihm die kleine Frau unter die Achseln und stützt ihn, bis das Schwanken unter Gaspar aufhört.

„Was hast du genommen?“, fragt sie und schaut ihm forschend in die Augen. Gaspar wendet den Blick ab.

„Gar nichts!“, zischt er.

„Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?“

Wütend reißt sich Gaspar von ihr los. Er taumelt.

„Scheiße, braucht mich keiner …“, krakeelt er.

Atemlos sackt er gegen die Hauswand.

„Jaja, schon klar“, die Polizistin hält ihn fest, weil ihn sonst keiner festhält. „Braucht dich keiner irgendwohin mitnehmen“, sagt sie.

 

Es ist noch Tee da, aber sonst nichts. Der Wasserkocher wird nur noch vom Kalk zusammengehalten und brodelt vor sich hin.

„Warst lange nicht zu Hause, was?“ Die Polizistin sieht sich in seiner Wohnung um. Sie hat ihre Lederjacke ausgezogen und sie über einen Stuhl gehängt.

„Hast du Freunde?“, fragt sie vorsichtig.

Gaspar will das Gespräch nicht, und er beginnt den Küchentisch aufzuräumen. Er stürzt den Müll in einen Sechzig–Liter–Sack.

„Kann sein, kann nicht sein“, sagt er endlich, während die Polizistin das kochende Wasser in zwei schmutzige Kaffeetassen gießt.

„Eltern?“, fragt sie.

„Scheiße, was soll das?“

Die Polizistin verdreht die Augen.

„Schon klar“, wiegelt sie ab. „Hier, trink das.“

Sie schaut sich um und hat das Gefühl, es mit einem Sozialfall zu tun zu haben. Als würde hier kein Mensch leben, sondern ein verängstigtes Tier.

„Hast du Geld?“, fragt sie. „Ich meine, brauchst du welches?“

Gaspar ist es völlig egal. Geld ändert gar nichts.

„Legen Sie es irgendwohin“, sagt er und setzt sich an den Tisch. Kratzt mit seinen schmutzigen Fingernägeln an der Wollmaske herum, die sein Narbengesicht verdeckt.

Er schaut plötzlich auf, als wäre ihm ein irrer Gedanke gekommen.

„Rauchen Sie?“, fragt er. Aber die Frage scheint ihm so unangenehm zu sein, dass er sofort den Blick abwendet.

Die Polizistin lehnt sich vorsichtig zurück.

„Könnte sein“, sagt sie.

„Stecken Sie sich eine an“, fordert der Junge. Aber seine Forderung ist wie eine Lüge, denn im selben Moment, da er sie ausspricht, beginnt er ängstlich und unruhig auf seinem Stuhl herum zu rutschen und mit den Fingern auf den Knien zu trommeln.

Die Polizistin verzieht das Gesicht.

„Ich will aber gerade nicht“, sagt sie, während das, was sie eben noch für Angst gehalten hat, in Wut umschlägt. „Dann machen Sie, dass sie wegkommen!“

 

Als das Feuerzeug in der Hand der Polizistin aufflammt, wird Gaspars Gesicht kreidebleich.

Er hält es aus, nur einen Augenblick.

Dann stürzt er würgend ins Bad.

 

Es drücken sich die Laternen wie lange Lulatsche an der Hauptstraße herum. Suse, die Polizeiwichserin, behauptet seit einigen Tagen, dass sie Freunde seien, nur weil Gaspar über einen ihrer Witze gelacht hat.

So kommt es Gaspar jedenfalls vor.

Sie möchte, dass er seine Skimaske abnimmt, damit sie ihn so sehen kann, wie er wirklich aussieht.

„Geht immer daneben“, sagt Gaspar. Vielleicht ist er für so was wie Liebe gar nicht gemacht.

Suse schaut ihn seltsam an, nachdem er das gesagt hat. Und Gaspar wird rot unter seiner Skimaske. Daran hätte sie gar nicht gedacht, sagt sie und lächelt.

 

Auf einem Spielplatz zeigt er ihr sein Gesicht. Es ist dunkel, und im Mondlicht schimmern die Narben, die sich wie weiße Mäander auf der Fratze des jungen Mannes ausbreiten, wie schmutziges Silber. Der Polizistin streicht über das weiße Narbengeflecht und kaut auf ihrer Unterlippe, während sie ihn berührt. Gaspars Blick verdüstert sich, als er in ihren Augen Mitleid erkennt.

„Macht es dich an?“, fragt er kalt und nimmt ihre Hand.

Als sie ihn einen Augenblick zu lange schweigend ansieht,

ist Gaspar mehrere Tage verschwunden.

 

Die Schlachthöfe sind der einzige Ort, wo Gaspar wirklich untertauchen kann. Dort ist er niemand. Höchstens ein Außenseiter unter anderen. Ein paar Autonome lassen ihn ganz nah an sich heran, bis er eine Hand aus dem Parka zieht und sein verbranntes und vernarbtes Fleisch im Laternenlicht aufflackert.

„Verdammte Scheiße“, sagt einer und wankt vor Ekel zu Seite.

„Ey, Gas!“ Eine schwere Hand legt sich ihm auf die Schulter. „Hab gehört, du drückst dich mit Bullen rum!“

Der Einlasser schreit es so laut, dass die Autonomen einen Schritt auf sie zu machen. Das Geplätscher von auslaufendem Bier steigt Gaspar in die Ohren, als sie ihre Bierflaschen bei den Hälsen packen.

Macht euch vom Acker!“, schreit der Einlasser sie an. Sie wirken unsicher.

„Der ist in Ordnung“, sagt er leiser und zieht Gaspar zum Eingang des Nachtclubs.

„Mann, du musst endlich mal auf die Leute zugehen“, sagt er im Vertrauen zu Gaspar. „Mach mal was, hau mal auf die Kacke! Scheiße, mit `ner Bullenfotze um die Häuser ziehen, das löst doch keine Probleme!“

Gaspar nickt. Wie er davon wissen kann, ist ihm egal.

„Schon klar, Mann“, sagt er.

Der Einlasser lacht laut auf und stößt Gaspar in die Seite.

„Na klar ist alles klar!“, sagt er mit einem Grinsen, das sich gewaschen hat. Er gibt ihm einen scherzhaften, aber harten Klaps auf den Hinterkopf.

„Verzieh dich, Gas“, sagt er, „bevor ich dich alle mache!“

 

Gaspar drückt sich an dem Einlasser vorbei, der ihm als Junge die Verbände gewechselt hat wie eine Mutter. Er braucht ihm nichts vorzumachen oder ihm Geschichten erzählen. Er kennt die ganze Scheiße. Und er war in der Nacht dabei gewesen, als sie ihn ins Krankenhaus brachten, mit dem ganzen offenen Fleisch und den herunterhängenden Hautfetzen, die das Feuer wie eine Bestie von seinem Körper geleckt hatte. Als er sich noch einmal umdreht, sieht er, wie der riesige Mann mit offenen Armen auf die Autonomen zugeht. Mit diesen gewaltigen offenen Armen!

Verdammte Scheiße. Als wäre der Mann eine Dampfpresse, die das gähnende Maul aufreißt, bevor der nächste Rohblock aus Stahl hinein geschoben wird.

KRASCHACK!

Es kann einem den ganzen Arm abreißen.

 

Gaspar haut sich an die Bar, so wie immer. Sobald sich die Tür des Schlachthofes schließt, bleibt alles ausgesperrt. Bleibt alles ruhig. Niemand kommt rein, jedenfalls nicht, wenn Karl es nicht will.

Ein paar schwergewichtige Kerle drücken sich immer am Tisch an der Tür herum. Sie warten nur darauf, dass Karl sie heraus pfeift, wie Hunde, die man von der Leine lässt. Sie kriegen ihr Bier billiger und jeden Abend warten sie auf eine genauso billige Schlägerei. Ansonsten sind sie nur totes Fleisch, und Gaspar verabscheut sie, mit ihren makellosen, aufgepumpten Körpern, die bis zur Unkenntlichkeit überzüchtet sind. Tagsüber stemmen sie Gewichte und nachts das Bier. Und warten darauf, dass etwas geschieht. Irgendwas.

Wie Schweine auf die Schlachtbank.

 

„Hey, wozu die Maske, Mann?“

Ein furchterregendes Klicken lässt Gaspar aus seiner Lethargie aufschrecken. Durch das dichte Gewebe aus schwarzer Wolle dringt ein Gitter von gedämpftem Licht.

Gaspar zieht die Maske gerade.

„Hast du Krätze im Gesicht, oder was?“

Der Mann neben ihm lässt ein Zippo in der Hand tanzen. Wie bei einem Zaubertrick schnappt der silberne Verschluss auf und zu, ohne dass man die rasend schnellen Finger dabei beobachten könnte.

Gaspar ist, als schaute er in einen Spiegel.

„Wie ist das passiert?“, fragt er atemlos und betrachtet die schweren Verbrennungsnarben, die sich im Gesicht des Mannes wie ein dicht geknüpfter Teppich ausbreiten.

Der Mann lacht. Er lacht so laut, dass sich die Typen an der Tür umsehen und sie beäugen.

Wie ist das passiert? Wie ist das passiert?“, äfft er Gaspar nach. „Was denkst du denn, wie es passiert ist?“

Gaspar sitzt da und wagt kein Wort heraus zu bringen. Wenn ein Mann bis zur Unkenntlichkeit verbrannt ist, kann man nicht einmal einschätzen, wie alt er ist. Er könnte hundert Jahre alt sein oder sonst was. Der verbrannte Mann, der neben ihm an der Bar sitzt, schaut ihn an, als könnte er seine Gedanken lesen.

„Also, was glaubst du, wie es passiert ist?“, fragt er. „Hat sich vielleicht die Hölle aufgetan, und ich war zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder hab ich einfach als Kind im Ofen gespielt und Mutti hat zwei Stunden gebraucht, bis sie merkte, dass ich gar bin?“

Die Brandnarben auf seinem Gesicht verzerren sich, während er lacht, und die Haut wirkt wie zerknülltes Sandpapier. Immer wieder wendet er sich um und taxiert die Umgebung, als würde er auf jemanden warten.

Gaspar schluckt einen Kloß herunter. Er weiß, dass es egal ist, wie es passiert ist. Es war das Feuer, nichts weiter. Und es war gleich, wo und wie er damit in Berührung gekommen war.

„Es war das Feuer, nicht wahr?“, flüstert er, wissend, dass es so einfach war. Und der Verbrannte glotzt ihn an, als hätte der Junge neben ihm gerade seinen Doktor in Elementarphysik gemacht.

„Na wenn ich das nicht `nen schlauen Bengel nenne“, platzt er ganz überrascht heraus und tätschelt Gaspars Hand. Seine Finger sind lang und dürr, und es sieht aus, als würde sich kein Fleisch unter der pergamentartigen Haut befinden, nur Knochen und Sehnen.

Das Feuer“, sagt er, während seine lidlosen Augen ihn anglotzen. Aber er könnte genauso gut „das Grauen“ sagen, und er käme der Wahrheit genauso nah. Gaspar weiß das.

Der Fremde zieht ein Fläschchen mit Augentropfen aus der Tasche und träufelt sie sich auf die lidlosen Augäpfel.

„Das Feuer brennt dir alles weg“, flüstert er, „bis nichts mehr übrig bleibt. Außer der verdammten Seele.

So ähnlich wie Stahl in `nem Hochofen, denkst du nicht?“

Und seine Hand kriecht wie eine Spinne an Gaspars Arm empor, während der Junge darüber nachdenkt. Ist plötzlich an seinem Nacken und nestelt an der Wollmaske, die Gaspar niemals abnehmen würde. Erst recht nicht vor einem Fremden, den er gerade an der Bar kennen gelernt hat.

„Was soll das!“ Gaspar ist erschrocken und zerrt den Saum der Maske bis ans Schlüsselbein.

 „Jetzt komm schon. Wir beide wissen doch, wie du darunter aussiehst. Denkst du, es interessiert sich hier irgendjemand für deine Hackfresse? Oder für meine?“ Der Verbrannte gräbt die Fingernägel seiner rechten Hand, die krumm und schief gewachsen sind und sich wie Korkenzieher aus den vernarbten Nagelbetten schrauben, in das Fleisch seiner rechten Wange, als würde er die kranke Haut abreißen wollen.

„Niemand interessiert sich dafür!“, sagt er. „Es ist nur eine Maske. Was sich darunter verbirgt, ist etwas ganz anderes!“

 

Gaspar schaut sich das vernarbte Gesicht seines Gegenübers an und kann nicht glauben, dass der Mann es mit solcher Verachtung zur Schau stellt. Mit der Verachtung eines Gauklers oder Clowns, denkt er, den es keinen Deut interessiert, dass die Menschen über ihn lachen, sondern der es im Gegenteil wie eine Fanfare vor sich herträgt, während er hoch über ihren Köpfen auf einem schwankenden Seil marschiert und von oben herunter stiert. Mit brennenden Augen.

Ganz im Gegensatz zu jenen Männern, die dort an der Tür herumlungern und ihre aufgepumpten und gekünstelten Leiber präsentieren, die sie auf Sonnenbänken und mit Körperlotionen auf Hochglanz poliert haben!

Was verbirgt sich unter ihrer Oberfläche?

NICHTZZZ!

Nur der Überrest einer Seele, die sich ganz ihrem Äußeren verschrieben hat und es anbetet wie ein goldenes Kalb. Nur ein Gott der Hässlichkeit würde sie in ihrem Hochmut strafen können. Und er würde von seinem Berg herabsteigen müssen, wo er sich verborgen gehalten hat, wie ein Sturm, der sich vor seiner eigenen Macht fürchtet!

 

Plötzlich reißt sich Gaspar die Maske vom Kopf.

 

Und runzelt die Stirn, als blende ihn das helle Licht der Neonröhren, die die alten Gewölbe des Schlachthofes erhellen.

„Scheiße, man!“, brüllt der Mann los, der ihm die Augen geöffnet hat und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Scheiße, seht euch diesen Wichser an“, schreit er. „Dieser verdammte Wichser zeigt euch, was er von euch hält!“

Einige der Leute an der Bar sehen sich gelangweilt um.

Einen Augenblick wirken sie wie erstarrt. Als wäre ein furchtloser Gott in ihre Mitte getreten.

Gaspars Gegenüber rutscht rasend schnell von seinem Hocker und an Gaspar heran.

„Wie ähnlich wir uns sind“, flüstert er und lenkt Gaspars Blick in den Spiegel hinter der Bar, der den Raum noch größer und endloser erscheinen lässt. „Fast könnte man glauben, wir wären Vater und Sohn.“

Aber Gaspar ist erschrocken von seinem Anblick. Seine Selbstherrlichkeit ist wie weggeblasen, als er sein schreckliches Antlitz mit dem des anderen so nah beieinander im Spiegel sieht. Als würden sich die vernarbten Gesichter verflüssigen und ineinander überlaufen und sich vermischen.

„NA, ist die Ähnlichkeit nicht verblüffend?“, schreit sein Alter Ego und presst sein Gesicht gegen das seine und zwingt ihn, mit ihm in die Runde zu schauen.

Das Panorama zeigt die Gesichter der Angewiderten und Schaulustigen.

Was ist, soll ich dich in die Hölle mitnehmen?“, brüllt der Verbrannte los und wartet einen Augenblick darauf, dass jemand aufsteht und die Herausforderung annimmt.

„Haben keine Ahnung von der Hölle, die Wichser“, flüstert er Gaspar wichtigtuerisch zu.

Er wendet sich ab und sucht etwas in seiner Tasche.

„Steht einer auf?“, zischt er.

Gaspar sieht einen Bullenkerl von der Tür auf die Bar zuwanken. Er hat etwas unter seiner Jacke. Und er hat nur darauf gewartet, es herausholen zu dürfen. Hat seit Wochen an der Tür herumgelungert und tagsüber seine Gewichte gestemmt. Hat gewartet, dass es endlich losgeht, dass irgendwelche Blödmänner, so wie sie es sind, aufstehen und das Maul aufreißen.

„Einer kommt rüber“, flüstert Gaspar und sieht, dass sich die anderen Muskelprotze an der Tür von ihren Stühlen erhoben haben.

 

Der Mann mit der unangenehmen Stimme riskiert nicht einmal einen Blick

„Dann soll er zur Hölle fahren!“, zischt er. Und noch bevor Gaspar etwas tun kann oder reagieren, ist der Bullenkerl an der Bar und reißt ein Messer hervor. Da wirbelt der Mann neben Gaspar herum, springt auf, und eine Flüssigkeit spritzt in das Gesicht des Bullen.

Der Geruch lässt Gaspar würgen.

Im nächsten Augenblick flammt das Zippo auf.

Noch einen Schritt“, kreischt der Verbrannte, „UND du siehst mich jeden Tag im Spiegel!“

 

„Hast du gesehen, wie er gerannt ist?“

Sie sind in Gaspars Wohnung. Der Verbrannte hat erst in allen Ecken herumgeschnüffelt, bevor er sich an den Küchentisch gefläzt hat, als wäre er hier zu Hause.

„Hast du´s gesehen? Wie er geflitzt ist! Wie ein Mäuschen, das die Rattenfalle hat zuschnappen hören.“

Gaspar setzt sich vorsichtig. Sein Herz rast vor Begeisterung. Ja, er hat´s gesehen, und am liebsten wäre er ihm nachgerannt und hätte ihm das brennende Feuerzeug selbst ins Gesicht geworfen!

Damit er´s fühlt. Damit er weiß, wie es ist, wenn einem das Feuer das Gesicht abschabt. Seine Hände zittern noch immer. Er hat etwas zu schmecken bekommen. Etwas, das sich schwer verdauen lässt.

Der Verbrannte legt die Füße auf den Tisch.

„Wenn ich meine Prothesen abnehme, fühle ich mich erst richtig frei“, sagt er und stöhnt, während er etwas aus seinem Gesicht nimmt und es vor sich auf den Tisch legt. Es ist eine Nasenprothese. Er schnippt mit dem Finger danach.

Sie dreht sich.

Gaspar betrachtet sie lange, bevor er zu ihm aufschaut.

Der Verbrannte ist groß, und der vernarbte Kopf steckt ihm so tief in den hohen Schultern, dass er wie ein Eishockeyspieler wirkt. Die Trapezmuskeln beginnen kurz unter den Ohren. Wie gewaltige Schulterpolster heben und senken sie sich mit jeder Bewegung. Er könnte ein Krieger sein, denkt Gaspar, ein biblischer Krieger, dessen muskulöser Körper nur dem Zweck dient, schwere, eisenbeschlagene Schilde zu wuchten und fünf Meter lange Speere zu schleudern. Der Brand der Bibliothek von Alexandria hat ihn erst zu dem gemacht, was er heute ist.

„Weißt du, wenn alte Männer ihre Zähne aus dem Mund nehmen und es sich gut gehen lassen, dann nehme ich immer die hier raus!“, sagt der Verbrannte, während Gaspar diesen atemlosen Gedanken hat.

Etwas landet polternd auf den Tisch. Gaspar begreift es nicht sofort. Der Verbrannte nennt es sein Geschmeide.

Es ist eine Genitalprothese. Gaspar kann den Blick nicht abwenden. Der Mann lacht schallend auf.

„Die Schweizer machen nicht nur Uhren, sag ich dir!“, ruft er. „Das Ding klappt wie ein Taschenmesser auf; wann immer ich will.“ Obszön bewegt er die Hüften und schnalzt mit der Zunge.

Er knufft Gaspar in die Seite.

„Und du? Leg mal ab! Pack die Perlen auf den Tisch, mein Junge. Oder willst du mir erzählen, dass der Dom zu Köln keine Glocken hat?“

Gaspar sieht ihn erschrocken an.

„Hab nichts“, flüstert er.

Der Verbrannte beobachtet Gaspar wie eine Marionette, die an ihrem letzten Faden baumelt.

„Hast wohl Angst, dass du von deinem Faden abreißen könntest und alleine laufen musst?“, fragt er langsam und fummelt an seinem Kinn herum.

„Ich verstehe nicht.“

„Du verstehst ganz gut!“, droht er. „Du hängst am Faden wie so ´ne Puppe im Zirkus vom Feuerfresser!“

Gaspar will aufstehen. Es ist ihm zuwider. Aber der Verbrannte ist rasend schnell bei ihm und packt ihn am Hals, dass ihm die Luft wegbleibt. Er greift ihm in die Hosen, zwängt die Beine auseinander.

„Dacht ich´s mir doch“, grinst er ihn hämisch an.

„Soll ich sie rausreißen und wie Pingpongbälle über den Tisch tanzen lassen?“

Gaspar röchelt.

„Nimm die Hand da weg“, flüstert er. Auf sein Gesicht hat sich ein merkwürdiger Schatten gelegt. Der Verbrannte beobachtet ihn fasziniert.

Gaspar umklammert das Handgelenk des Mannes und versucht, die kräftige Hand aus seinem Schritt zu ziehen.

„Versuch es nicht nur, mach es!“, wird er kichernd angespornt. Gaspar nimmt all seine Kraft zusammen. Die Spinnenhand des Verbrannten kriecht seinen Oberschenkel empor. Der Ekel, den er dabei empfindet, ist so groß, dass er am liebsten nachgeben würde, nur um es hinter sich zu haben.

„KOMM SCHON“, gellt die Stimme.

„KOMM!“

Der Schatten in Gaspars Gesicht hat ein tiefes Schwarz angenommen.

 

„Nimm sie weg“, flüstert er. Und plötzlich scheint die Spinnenhand des Verbrannten zurück zu weichen. Sie kriecht zurück, zittert. Gaspar kann es kaum glauben, dass er die Kraft dazu aufgebracht hat. Er fühlt sich lebendig und mächtig zugleich. Aber etwas stimmt nicht. Er spürt, wie die Kraft des Verbrannten nachzulassen scheint, als würde sie ihm entgleiten, als müsse er sich anderen und größeren Kräften entgegenstellen. Plötzlich springt er von seinem Stuhl auf und lässt Gaspar unbeachtet. Mit seinen Spinnenhänden greift er seinen narbigen Schädel und reibt die Schläfen. Währenddessen flüstert er unaufhörlich in einer unbekannten Sprache, taumelt und schlägt gegen die Küchenzeile, die unter dem Aufschlag erzittert. Die verdammten Schranktüren fliegen auf und schwingen.

Sein Flüstern wird lauter, ein immerwährendes Murmeln, aus dem Gaspar das ein oder andere Wort heraus zu hören glaubt. Er glaubt es zu verstehen. Und doch nicht.

Dann bricht das Flüstern ab und der Verbrannte sinkt langsam auf die zerschlissenen Fliesen hinab. Da sitzt er und atmet schwer. Wie mit zerstochenen Lungenflügeln. Er steckt die Zunge heraus, die dick, rot und geschwollen ist.

Er versucht zu lachen. Als ob nichts gewesen sei. Es gelingt ihm aber nicht sofort. Er spitzt die Lippen und pfeift, als hätte er gerade eine Mordsshow mitgemacht. Als wären gerade Siegfried und Roy mit ihren verdammten weißen Tigern durch die Küche marschiert.

Er hebt die Hand.

„Tut mir leid“, sagt er. „Ich weiß, wir hatten gerade so viel Spaß.“ Er leckt sich die schweißnassen Lippen. „Da krieg ich doch glatt Besuch in meinem Kopf. Alles Freunde, verstehst? Kommen manchmal vorbei und erinnern mich an was. Hab´s versprochen, verstehst? Hab´s bei der Hölle geschworen.“

Der Verbrannte stöhnt. Erhebt sich.

„Aber wir haben noch nicht über das Feuer gesprochen“, sagt er.

 

Die Polizistin weiß nicht, warum es sie immer wieder hierher zieht; zu diesem Jungen. In gewisser Weise ist er noch ein Kind. Aber hinter seiner verletzlichen Fassade verbirgt sich etwas Aufrührerisches, etwas Ergreifendes, das sie genau da anpackt, wo sie sich ausgemergelt fühlt. Sie will sich nicht eingestehen, dass sie etwas für ihn empfindet.

Für diesen Jungen.

Aber so ist es. Ansonsten stünde sie nicht hier, in seiner Straße. Die Großstadt ist hier meilenweit weg, hat man das Gefühl. Sie existiert gar nicht. Und die Millionen, die angeblich keine hundert Meter Luftlinie entfernt leben, sind woanders, im Licht.

In der Straße aber, in der die Polizistin sich gerade eine Zigarette anzündet, brennen nicht mal die Laternen. Das einzige lebendige Wesen außer ihr ist eine lahm geschlagene Katze, die um die Häuserecke humpelt. In diesem Teil der Großstadt scheint alles verstümmelt. Sogar sie, auch wenn es nur im Herzen ist.

Seufzend schaut sie nach oben, zu dem Haus, in dem der Junge wohnt und sucht die Fensterzeilen ab. Der Taubenschutz sticht wie eine Reihe Nägel aus den Fensterbrettern. Als sie Licht sieht, überquert sie die Straße. Es ist kein elektrisches Licht, sondern ein warmer und lebendiger Schein, der sich in den gegenüberliegenden Fenstern widerspiegelt. Sie ist nervös und wählt überhastet auf ihrem Handy die Notruftaste.

Sie bricht die Verbindung ab, versucht ihren Atem zu kontrollieren. Sie wird jetzt nicht die Polizeiwichserin spielen! Das würde er von ihr erwarten und sie noch weiter von ihm entfernen. Aber sie will ihm nahe sein.

Ihre Absätze trommeln über das Pflaster. Warum hat sie die verdammten Dinger angezogen, denkt sie und streift die Schuhe von den kleinen Füßen.

Ihre Schritte werden plötzlich fast unhörbar.

 

Es könnte sein, dass er in diesem alten Gründerzeithaus ganz allein wohnt, geht es ihr im Treppenhaus durch den Kopf. Auf einer der Etagen brennt ein Flurlicht und sie hastet ihm entgegen. Darüber lauert die Dunkelheit wie das übergestülpte Maul eines Titanen, in dem sich die Wohnungen wie Backentaschen voll stinkendem Eiter übereinander stapeln. Sie irrlichtert einem schwachen Flackern entgegen, das unter einer Türschwelle wie Wasser in den Hausflur wabert.

„GAS, ich bin´s, mach auf!“

Sie hämmert gegen die Tür und weiß, dass er nicht öffnen wird. Ihr Herz schlägt so wild, dass ihr Brustkorb zu hüpfen scheint. Sie wirft sich gegen die Tür, die endlich nach Schlagen und Treten in den Flur bricht.

„GAS!“ Sie presst sich das T–Shirt an den Mund. In der Küche heult durch den einströmenden Sauerstoff ein Flammenherd auf.

Sie stolpert in die Wohnung hinein.

Der Junge sitzt gefesselt auf einem Stuhl und regt sich nicht. Vor ihm fackeln der massive Küchentisch und die Küchenzeile. Die Flammen schlagen ihr entgegen.

„Bist du okay?“, schreit sie und reißt Gaspar samt dem Stuhl mit sich fort.

„BIST DU OKAY?“

Von der enormen Hitze zerspringen in der Küche die Fensterscheiben und das Feuer gewinnt neue Energie. Flammen schlagen bis in den Flur, als wollten sie Gaspar mit gierigen Armen zurückziehen.

Feuerwehrsirenen jaulen von der Straße her.

Die Hinterbeine des Stuhls brechen ächzend weg, als die Polizistin den Jungen die Treppen hinunterzerrt.

Polternd hört sie Stiefel herauf jagen.

Das Seufzen der Gasmasken, die die Feuerwehrmänner tragen, erinnert sie an den schweren Atem eines Marathonläufers. Die Männer in den feuerfesten Mänteln donnern vorüber und hämmern ihre Äxte in die brüchigen Wohnungstüren.

Das Feuer hat leichtes Spiel.

 

Suse hält Gaspar im Arm und füttert ihn mit weichem, in lauwarmem Tee eingelegtem Zwieback.

„Was machst du nur?“, fragt sie, während er isst.

„Ich dachte, du hast Angst vor dem Feuer.“ Sie schüttelt den Kopf. „Und jetzt machst du so was.“

Gaspar schweigt, kaut und starrt sie an.

„Sie haben mir Augentropfen gegeben“, sagt sie, „weil sie glauben, dass du deine Augen nicht gleich richtig schließen kannst, nach dem Feuer.“

Mit einer Pipette träufelt sie ihm eine Lösung auf die Pupillen. Gaspars Augenlider beginnen zu zucken. Aber er kann sie nicht schließen.

„Ich würde so gerne hier bei dir bleiben“, sagt er.

Suse streicht ihm über die narbige Stirn.

„Das wirst du wohl müssen. Nach Hause kannst du jedenfalls nicht.“

Gaspar legt den Kopf zur Seite und die Tropfen laufen ihm wie Tränen aus den Augenwinkeln.

 

Sie schlafen miteinander in absoluter Dunkelheit. Gaspar sagt, er will nicht, dass sie ihn dabei ansieht.

Gaspars Stöhnen ist wie das Wiehern eines Esels, als er zum Orgasmus kommt. Sekundenlang verkrampft er sich, ohne dass sie seinen Samen in sich spürt.

Dann steht er plötzlich auf und dreht sich weg. Wenn sie ihm jetzt die Hand auf die Schulter legt, wird er gehen und nie mehr zurückkommen.

Aber sie tut es nicht. Er sitzt in der Dunkelheit und hört nur ihren gleichmäßigen, ruhigen Atem. Sie scheint eingeschlafen. Gaspar klaubt seine Jeans vom Boden auf und geht nackt zur Tür. Dort steht er und will einfach nur fort. Er hat die Skimaske wie eine Mütze übergestreift und die Klinke halb herunter gedrückt. Er ekelt sich vor dem Gesicht des Verbrannten, das seinem so ähnelt, und das irgendwo da draußen in der Dunkelheit auf ihn wartet.

Als Suse sich in ihrem Bett umdreht und eine einzelne Bettgestellfeder wie ein abgestochenes Schwein aufquiekt, ist ihm klar, dass er nicht bleiben kann. Sie kennt das Feuer nicht. Sie wird nie verstehen, welche Macht es auf ihn ausübt.

Und er hat Angst davor.

Ja.

Denn seine Macht wird mit jedem Augenblick stärker.

 

Die Musik hämmert im Inneren des Schlachthofes in die Köpfe der Betrunkenen. Gaspar ist ohne Maske hier. Er hat sie weggeworfen und zeigt allen sein Gesicht. Der Einlasser hat ihm etwas nachgerufen, als er ihn so gesehen hat.

„Junge, pass bloß auf dich auf!“, hat er gerufen.

Gaspar hat sich nicht einmal umgedreht.

 

„Bist du zurück?“, fragt der Verbrannte.

„Wer bist du?“, fragt Gaspar. Der Verbrannte schenkt ihnen weißen, bitteren Schnaps ein, der nach Kümmel duftet. Er nimmt ein Feuerzeug und führt die Flamme an die Gläser. Auf dem erhitzten Alkohol tanzen kleine, bläuliche Flammenherde.

„Trink“, sagt er. „Wenn du trinkst, sag ich es dir vielleicht.“

Alles in Gaspar sträubt sich dagegen, sich die brennende Flüssigkeit in den Hals zu stürzen. Er würgt, als der Verbrannte klingend das Glas gegen das seine stoßen lässt und brennender Alkohol auf Gaspars Hand herüber schwappt.

„Halt still“, flüstert er, „und sieh zu, wie es verbrennt!“

Gaspars Hand zittert so sehr, dass immer mehr von dem entzündeten Ethanol auf seine Hand läuft. Dann wird er ruhig. Die Flammen können ihm nichts anhaben. Brennende Fäden legen sich um sein Handgelenk und tropfen auf den Tisch.

„Es tut nicht weh“, stellt Gaspar überrascht fest.

„Es kann dir nichts anhaben, wenn du nicht willst“, sagt der Verbrannte. „Trink!“, fordert er ihn auf.

„Jetzt trink schon!“

Gaspar schüttet sich den brennenden Alkohol in den Mund und schluckt. Einen Augenblick spürt er das Feuer, wie es über seinen Gaumen tanzt. Dann ist es fort, und er schmeckt nur noch eine leichte, rauchige Erinnerung.

„Ich wusste, dass du das Zeug dazu hast“, flüstert ihm der Verbrannte zu. „Ich hab´s von Anfang an gewusst.“ Er beugt sich herüber und reicht Gaspar sein silbrig funkelndes Feuerzeug. Es ist anders als die anderen, die man am Bahnhof, in Souvenirläden zu kaufen bekommt. Die Gravur ist flüchtig und doch unübersehbar. Es scheint, als wäre sie mit einem einzelnen, metallischen Haar in die Oberfläche eingraviert worden, einem Haar aus glühendem Wolfram.

„Hier, ich schenke es dir“, sagt er und schließt Gaspars Hand um das Zippo. Urplötzlich entzündet sich die Flamme, als Gaspars Daumen flüchtig über das abgenutzte Reibrad huscht.

„Es will brennen, verstehst du?“, flüstert ihm der Verbrannte zu. Einige Sekunden verliert sich Gaspars Blick in der kleinen Flamme, bis er das Zippo unerwartet zuschlägt.

„Wer bist du?“, fragt er, fast ohne dabei die Lippen zu bewegen.

Der Verbrannte lehnt sich lächelnd zurück.

„Wenn wir herausgefunden haben, wer du bist, kannst du die Frage vielleicht selbst beantworten.“

 

Sie ist ihm gefolgt. Suse hat sich unter die Autonomen gemischt, die sie mit ihrer zu großen Lederjacke misstrauisch beäugen. Sie drängen sich um sie, ohne dass sie es merkt. Ein Stoß in die Seite lässt ihr fieberheißes Blut in die Wangen schießen. Sie ist umringt, und Hände packen sie am Gürtel. Eine dahergeflogene Ohrfeige klatscht ihr ins Gesicht. Irgendjemand hat sie erkannt.

„Bullenfotze“, zischt einer, und sie erhält einen Schlag in die Magengrube. Sie wird mitsamt der Gruppe gegen die Häuserwand gedrängt. Schreie gehen im Getrommel von Fausthieben unter. Sie sieht einen Schlagring aufblitzen und wieder verschwinden. Dann lichtet sich alles und sie hört Kampfstiefel über das Kopfsteinpflaster hasten. Jemand presst ihr die Hand auf Mund und Augen. Sie wird in die Luft gehoben und fortgerissen.

 

Strampelnd landet sie in den Mülltonnen.

„Hör zu, wenn ich nicht wüsste, dass der Junge in Schwierigkeiten ist, dann hätte ich keinen Finger für dich gerührt. Die hätten dich rüber zu den Schweineställen schleppen können und hätten ihren Spaß mit dir gehabt, soviel ist sicher!“

Der Türsteher blickt immer wieder zurück, während er redet. Er hat die rechte Schulter vorgebeugt und hält den muskulösen Arm angewinkelt, als wollte er jeden Augenblick auf sie losschlagen.

„Wenn er in Schwierigkeiten ist, warum helfen Sie ihm dann nicht selbst?“

Der Türsteher sieht sie breit grinsend an.

„Könnte ich hier weg, würde ich den ganzen Saustall hochnehmen, darauf können Sie wetten. Würde so manchem nicht gefallen, was dann passieren würde.“

„Probieren Sie´s doch aus.“

„Könnte ich hier weg, würde hier einiges schief laufen“, sagt er.

Suse steht langsam auf und hält sich den schmerzenden Unterarm.

„Was könnte hier schon schief laufen!“

Vom Eingang des Schlachthofs dringen Schreie zu ihnen herüber. Betrunkene Schläger poltern aus der Bar und kollidieren mit den zurückkehrenden Linken, die in voller Besetzung eine Revanche einfordern.

„Ich muss zurück“, sagt der Türsteher kurz angebunden.

„Passen Sie auf den Jungen auf. Warten Sie am Hintereingang. Woanders kommt jetzt keiner mehr raus.“

„Danke“, sagt Suse und hält den riesigen Mann am Arm fest. Dann setzt er sich wie eine Maschine in Bewegung, und Suse sieht wieder den Schlagring in seiner Hand aufblitzen. Die Autonomen stehen wie eine Phalanx und erwarten den Angriff.

 

Die beiden Gestalten, die aus der Hintertür herauswanken, hält sie erst für Betrunkene, die sich nicht mehr auf den Beinen halten können und ihren Schwachsinn daherflüstern.

„… einheizen …“, hört sie aus dem Stimmgewirr heraus. „Werden ihnen schon“, ein Kichern ertönt, „Beine machen!“ Die beiden Männer könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine ist riesengroß und muskulös. Er hält den Schmächtigen im Arm, als würde er ihm fortlaufen, wenn er ihn nicht festhielte. Die Gestalt des Schmächtigen kommt der Polizistin plötzlich bekannt vor, als er sich aus der Umarmung des Riesen löst und zwei Schritte davon stolpert. Es ist Gaspar.

„Wir werden ihnen schon einheizen!“, ruft er und hält etwas in der ausgestreckten Faust. Fast erkennt sie seine Stimme nicht wieder. Sie ist rau und widerwärtig geworden. Er hat sich verändert.

Bis ins Mark verändert.

Der Riese lacht, bis er plötzlich innehält und sich stöhnend an die Stirn greift.

„Ist schon gut“, flüstert er.

„Sind nur die Stimmen.“ Und er beginnt in einer seltsamen Sprache zu reden. Es hört sich an wie Polnisch, denkt die Polizistin. Oder irgendein Dialekt. Sie ist sich nicht sicher. Sie hat diese Sprache schon einmal gehört. In ihrer Kindheit. Nicht ganz so unverständlich, nicht so, als wäre diese Form des Dialektes älter und durchmischt mit Wörtern, denen sie keinen Sinn zuordnen kann.

Es ist Jiddisch, denkt sie plötzlich, ganz eindeutig Jiddisch.

 

Gaspar fühlt sich wie an die Hand genommen, beobachtet und durchschaut. Mit jedem Feuer, das seine Hände wie unter Drogen erzeugen, stößt es ihn tiefer und tiefer in die Unergründlichkeit seiner Seele zurück. Es ist wahr, er weiß nicht, wer er ist, und das, was aus ihm geworden ist, ist nicht das, was noch heute Nacht aus ihm werden kann. Die Kopfschmerzen des Verbrannten, die Stimmen, wie er sie nennt, haben nachgelassen, und er sagt, dass sie so schnell nicht wieder kommen. Es sind Freunde, sagt er immer wieder, sehr alte Freunde. Und sie wollen, dass er etwas für sie erledigt. Eine große Sache, sagt er. Etwas ganz Großes.

 

Im Laufschritt durchkämmen sie die Nacht. Hier brechen sie in Hausflure ein und spritzen Benzin an die Wände. Die brennenden Buchstaben graben sich tief in den brüchigen Putz.

„ICH WAR HIER“, lodert es in der Dunkelheit auf.

Irgendwo in den Stockwerken über ihnen beginnt ein Kleinkind zu greinen. Erschrocken blickt Gaspar den gähnend schwarzen Hausflur hinauf.

Sein Mitverschwörer treibt ihn zur Eile an.

„WILLST DU SIE BRENNEN SEHEN?“

Er packt ihn am Kraken und stößt ihn in den Hausflur hinein. Gaspar landet auf den Treppen.

„DANN TUE ES!“

Gaspar entgleitet das Feuerzeug, und es landet scheppernd zu seinen Knien. Wie von selbst hat es sich geöffnet, und eine kleine Flamme zündelt bereits am Treppenfurnier.

Hastig klaubt er es auf und lässt den silbernen Deckel zurück schnappen.

„Ein Kind ist da oben“, sagt er.

Der Verbrannte ist über ihm und aus seinem Mund tropft heißer Speichel auf Gaspars Gesicht.

„Warst du nicht damals auch noch ein Kind?“, fragt er.

„Wer hat damals dein Schreien gehört?“

Gaspar reißt sich los und taumelt in Richtung Straße.

„NEIN!“, stöhnt er. „Nicht, wenn ein Kind im Haus ist!“

 

Der Verbrannte schaut ihm nach, wie er unter Übelkeitsanfällen davon stolpert. Der Junge ist schwach und hat keine Ahnung von dem Feuer. Mit seiner Hand berührt er das Geländer aus kunstvoll gedrechseltem Eichenholz. Es ist alt und verfärbt sich augenblicklich schwarz, als er ihm die Hand auflegt. Das Holz beginnt zu schmoren und zu knistern, als würde es Angst spüren.

Der Verbrannte schaut in den Treppenaufgang und hört das Weinen des Kindes.

„Wenn du jetzt nicht aufhörst zu greinen, wirst du brennen“, flüstert er und seine brüchigen Lippen legen das weiße, funkelnde Gebiss frei.

Er will schon hinaufgehen, da bricht plötzlich das Weinen ab und ängstliche Stille legt sich über den Hausflur.

Der Verbrannte bleibt stehen. Seine Augen verfärben sich dunkelrot und leuchten in der Dunkelheit.

Als er knurrend davon stürzt, bleibt auf dem Geländer ein glühender Handabdruck zurück. Ein Windhauch lässt kurz eine Flamme darauf tanzen. Dann steigt stinkender Rauch darüber auf.

 

Die Brandeinheiten jagen durch die Nacht. In ihren feuerfesten Uniformen stapfen sie neben ihren gewaltigen Löschfahrzeugen her, die sich durch das dichte Gewühl der parkenden Autos drängeln und spähen nach ihnen aus.

Aber da ist noch etwas. Gaspar spürt es im Herzen und in den Knien. Ein paar leichte Sohlen flüstern über den Asphalt. Ein leiser, keuchender Atem säuselt zu ihnen herüber.

Dort irgendwo steht sie im Schatten und starrt sie an.

 

„Wer ist sie? Wer zum Teufel ist sie? Hör zu, ich frage dich kein zweites Mal!“

Der Verbrannte legt Gaspar die kochend heißen Hände an die Schläfen, als wolle er in seinen Verstand eindringen.

„Denkst du etwa, ich könnte sie nicht riechen, die Hure? Ihre Oberschenkel sind schweißnass und ihre Wangen sind so heiß, dass sie im Dunkeln glühen würden, wenn sie endlich aus ihrem Versteck heraus käme. Riech selbst!“, zischt der Verbrannte. „Riech, verdammt!“

Und er hält Gaspars Gesicht in den Nachtwind, genau in die Richtung, in der er ihren herben, weiblichen Geruch wahrgenommen hat.

Da ist sie. Gaspar weiß, dass sie da ist. Irgendwo da draußen. Er kann sie riechen. Es ist Suse, kein Zweifel. Verwirrt reißt er sich vom Griff des Verbrannten los und kann es selbst nicht glauben, dass er sich seiner Sache so sicher ist.

„Wie kann das sein?“

Der Verbrannte schlägt ihm wutentbrannt gegen die Stirn. „Ich kann dir sagen, wie das geht!“, zischt er. „Du hast das Feuer in dir, mein Junge. Und du wirst es nicht mehr los! Du riechst das Holz, du riechst Papier und Fleisch, als ob du es mit Händen greifen könntest. Das ist das Feuer, und du kannst nicht leugnen, dass es in dir ist!“

Gaspar schließt die Augen und will es nicht wahrhaben. Nicht das Feuer, denkt er. Alles, nur nicht das Feuer!

Aber es ist so. Gaspar spürt es, wie ein lebendiges Organ, das sich in seinem Körper mit allen Sinnen vernetzt und mit brennender Zunge in seinen Verstand eindringt. Er kann es sehen! Er kann es fühlen und hören! Und inmitten dieser Verwandlung, dieser schrecklichen Metamorphose, die ihn schließlich ganz zu Boden schlägt, riecht er Suse so intensiv, wie er sie nicht einmal während des Geschlechtsverkehrs gerochen hat. Er ist in ihr, wie er nie in ihr war. Er spürt sie, wie er sie nie gespürt hat. Und er hat das Gefühl, er bräuchte nur die Hand auszustrecken und könnte ihre Seele mit Händen greifen.

 

Suses Herz rast. Sie lehnt in einer Verschattung, mit dem Rücken gegen die Wand gepresst. Ein Blick um die Ecke genügt, um Gaspar deutlich im Laternenlicht stehen zu sehen. Daneben der gebückte Riese, dessen Blick im Dunkel der Gasse zu glühen scheint. Er kraucht heran und legt Gaspar die Hand auf die Schulter. Spricht mit ihm.

Flüstert.

Dann zuckt sein Blick wie ein Suchscheinwerfer in ihre Richtung.

 

Suse stolpert zurück, als wäre sie von etwas angesprungen worden. Von etwas Unsichtbarem, das sofort beginnt, einen Weg in ihr Innerstes zu suchen, wie ein Bienenschwarm, der lautlos durch ihre Nase, ihren Mund und ihren Schoss in sie eindringt. Sie versucht ihn wegzuwischen, sie glaubt schreien zu müssen, als es ihr durch die Gedärme und die Kehle jagt.

Er ist in mir, denkt sie, oh Gott, er ist in mir!

Sie fällt und krümmt sich, und sie sieht Hände, die unter ihrer Haut ihren Körper umarmen. Ihre Gedanken sind so flüchtig wie ein Gas.

 

Dann steht Gaspar vor ihr und kniet sich nieder.

Die Hände unter ihrer Haut verschwinden. Ihre Gedanken kehren zögernd zurück. Er nimmt sie in die Arme und presst sie so fest an sich, als wolle er sie durch die Haut hindurch in sich aufnehmen.

Suse verliert erst den Atem und dann das Bewusstsein.

 

 

Wir brauchen einen Katalysator, damit das, was nicht brennen will, endlich in Flammen steht. Die Frau war so ein Katalysator. Der Junge hätte vermutlich Jahrhunderte gebraucht, um sich aus seinem Elend zu erheben. Andere bräuchten Jahrtausende dazu, aber ihre Zeit ist so kurz bemessen wie ein Wimpernschlag. Sie kriegen nicht mal den Kopf aus der Scheiße heraus, selbst wenn sie davon wüssten.

Aber nicht so der Junge. Der war schon halb heraus aus dem Mief und merkte es nicht mal. Er hatte das Feuer in sich, soviel war sicher. Aber noch brannte es nicht. Noch wurde es von der kleinkrämerischen Seele im Inneren zurück gehalten, von Angst und Unglauben beherrscht.

Und von Liebe …

 

Er war perfekt.

 

Es ist das Bild des alten Stahlwerks, das Gaspar sofort in die Magengrube schlägt, als er hinter dem Verbrannten aus einer Seitengasse stolpert. Das Werksgelände, an das sich die verlassenen Wohnhäuser der Stahlkocher wie blinde Soldaten anschließen, ist zur Heimat der Katzen geworden. Er hört ihre gellenden, wehleidigen Schreie von jenseits des rostigen Maschendrahts, der den verschatteten Ort wie einen Garten umschließt. Im Inneren wachsen die blütenlosen Stahlstängel der Hochofenanlage in den mondlosen Nachthimmel. Mitten hinein geworfen thront ein schwarzer Riese in dem filigranen Gestrüpp. Der Schmelzofen erhebt sich wie ein Wächter über das alte Industriegelände und scheint mit seiner rostigen Patina schon Jahrhunderte auf sie zu warten.

 

Der Verbrannte steht da, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und schaut hoch hinauf zum Kopf des schwarzen Riesen. Er sagt kein Wort, aber Gaspar sieht ihm an, dass er diesen Ort liebt, weil hier einmal das Feuer zuhause war. Allein der Gedanke an die ungeheure Hitze lässt Gaspar erschaudern. Er hält Suse in den Armen und will sie nicht loslassen. Sie gehört zu ihm, denkt er sich.

Sie wird ab jetzt für immer zu ihm gehören.

 

„Bist du bereit?“

Gaspar schweigt. Er ist zu allem bereit. Er war es von Anfang an. Und jetzt sind sie hier, wo einst der Stahl so lichterloh gebrannt hat wie die Sonne. Und es ist an der Zeit, dass die Öfen wieder angeheizt werden und das Feuer sich dieses Ortes bemächtigt.

Gaspar selbst wird es entzünden. Er wird es aufflackern lassen, damit alle es sehen können. Damit sie sehen können, dass er nicht aufgegeben hat. Und keine Angst kennt.

Nie mehr!

Gaspar schleppt Suse bis zu den alten Schüttungsvorrichtungen.

„Jetzt mach schon“, spornt ihn der Verbrannte an.

Suse atmet kaum. Gaspar lässt sie vorsichtig in das Hochofenmaul hineingleiten. Nur ein kurzes, müdes Seufzen gibt sie von sich. Dann macht sie sich ganz klein, als sie auf den von schwarzer Schlacke bedeckten Grund rutscht.

 

„Steig ihr nach!“

Gaspar duckt sich und kraucht in die Schüttung hinein. Es riecht nach Stahl und Kohle. In der Dunkelheit legt sich Suses Geruch über all die alten und toten Gerüche und erweckt sie zu neuem Leben. Hinter der Schüttungsvorrichtung geht es tief hinein in den Bauch des schwarzen Riesen. Am Boden knistert die trockene Schlacke unter Gaspars Schuhen, und wenn er die Wände berührt, regnet sie wie Pulverschnee auf ihn hinab.

Er schleift Suse tief in dieses Dunkel hinein und bleibt still und steif neben ihr hocken. Hinter ihnen kriecht der Verbrannte durch die Schüttung. Das Glühen seiner Augen erhellt das Innere des Hochofens wie purpurner Kerzenschein.

 

„An einem Ort wie diesem wurde ich geboren, Junge“, sagt er und berührt die mit Schlacke verkrusteten Wände.

„Ist mir, als wäre es gestern gewesen, als sie uns sagten, wir müssten uns ausziehen. Sie wollten uns untersuchen.“

Er seufzt und stemmt die Fäuste in die Hüften.

„Weißt du, draußen in Buchenwald ging es nach dem Gas direkt in die Öfen. Und es roch ganz ähnlich wie hier“, sagt er, „nur fleischiger, wie im Sommer bei einer Grillparty, bei der einer vergessen hat, die Steaks umzudrehen.“ Er lacht kurz und trocken auf.

„Aber kein bisschen nach Gas, verstehst du?“

Er schaut nach oben und scheint ganz in Gedanken versunken.

„An einem Ort wie diesem bin ich zum ersten Mal aufgewacht“, flüstert er. „Und ich weiß ganz ehrlich nicht mehr genau, was vorher war. Ich meine, vor dem Gas. Nur dass wir uns ausziehen mussten, und dass sie Musik spielten, als wir aus den Zügen stiegen.“

Die Muskeln unter der denaturierten Haut des Verbrannten straffen und bewegen sich. Er dreht sich um, und ein Lächeln spielt wie ein Narr um seine Lippen, als er Gaspar unten auf dem Boden neben Suse hocken sieht.

„War genau wie hier“, sagt er, „nur dass sie dort die Leichen fast bis unter die Decke gestapelt hatten. Ich wachte auf und musste mich erst einen ganzen Meter nach oben durchgraben.“

Er seufzt.

„Scheiße, und dann kam das Feuer.“

 

Gaspar schaut zu ihm auf, zu diesem markerschütternden, riesigen Leib, der die Ruß verkrusteten Wände tätschelt, als wäre er endlich zuhause angelangt. Gaspars Gedanken sind steril. Er kann es sich nicht vorstellen. Aber wäre es möglich, dass dieser Mann Buchenwald überlebt hatte? Er schaut ihn sich noch einmal an, die wuchtige Gestalt, die Trapezmuskeln, die ihn wie einen biblischen Krieger erscheinen lassen. Wie einen zurückgekehrten, biblischen Krieger, denkt Gaspar. Er schaut in das schrecklich entstellte Gesicht.

Er könnte hundert Jahre alt sein oder sonst was, denkt er. Und seine Hände, jene Spinnenhände, die in keiner Weise zu dem muskulösen Leib passen wollen, wirken plötzlich, als wären sie in der Hölle geschmiedet worden.

„Wer bist du?“, fragt Gaspar.

„Wer zum Teufel bist du?“

 

Als ihn die Hand des Verbrannten streift, kann Gaspar nur einen Augenblick seine Gedanken lesen. Nur einen Augenblick, bevor der Griff des Verbrannten übermächtig wird. Er ist kein Mensch, denkt Gaspar. Er ist etwas anderes, etwas Schlimmeres.

Ein Racheengel!

Aber etwas in ihm wehrt sich gegen diesen Gedanken. Etwas lehnt sich in ihm auf und will schreien, nein, das ist kein Engel.

Er ist alles, schreit es in ihm, aber er ist kein Engel!

Und ein einziger Blick in seine Seele genügt, um Gaspar tief und brutal im Herzen zu treffen.

„Deine Seele“, flüstert er.

„Sie ist …“

Aber er kann es nicht aussprechen. Er sucht nach einem Wort, irgendeinem. Aber es gibt kein Wort dafür.

Weil da nichts ist!

Ausgetrocknet ist sie, und nur in dem Moment, als der Verbrannte Gaspar berührt hat, wurde sie leicht mit Leben bestäubt.

Er braucht etwas, wird Gaspar plötzlich klar.

Und er braucht es schnell, bevor alles in ihm zu Staub zerfällt.

 

Gaspar schaut zu Suse und dann zu dem Verbrannten, der ihn durchdringend beobachtet, als wüsste er, woran er denkt.

„Du willst sie retten, oder?“, fragt er mit schiefem Kopf.

„Du denkst, ich lass sie hier einfach rausspazieren und hole mir nicht das süße Innere.“

Gaspars Stirn legt sich in Falten.

„Du willst sie gar nicht“, flüstert er und zeigt mit dem Finger auf ihn, als wäre er ihm auf die Schliche gekommen.

Der Verbrannte lacht schallend auf.

„Wie Recht du hast“, poltert er grienend heraus. „Sie hat eben nicht das Feuer in sich. Ich könnte sie zwar auslecken wie einen Honigtopf, aber hinterher hätte ich auch nur ein leeres Behältnis und sonst gar nichts.“

„Wieso ich“, fragt Gaspar. „Wieso nicht irgendjemand anderes?“

Der Verbrannte lächelt, als gäbe es noch ein Geheimnis zu enthüllen, das einfach zu lustig ist, um es ohne Widerstand preiszugeben. Er überlegt angestrengt, ob es nicht vielleicht noch einen Extralacher zu erheischen gäbe, wenn er mit der Lösung des Rätsels noch einige Minuten warten würde.

Aber plötzlich zuckt er zusammen. Knurrt.

„Nicht jetzt!“, zischt er und lauscht.

Es sind die Stimmen. Diese elenden fordernden Stimmen! Aber er scheint sie unter Kontrolle zu haben. Wie die Brandung eines noch weit entfernten Meeres hat er sie in seinem Kopf bemerkt. Sie haben sich angeschlichen aus dem Nichts. Wollen ihn bequatschen, diese elenden Stimmen. Wollen ihn an sein verdammtes Versprechen erinnern.

 

Aber nicht jetzt, verdammt noch mal, denkt er.

NICHT JETZT!

 

Er wendet sich Gaspar zu, der am Boden neben der Polizistin hockt und sie festhält.

„Erinnerst du dich nicht an mich?“, fragt er, während die Hände des Jungen zu zittern beginnen.

„Erinnerst du dich nicht, wie ich in dein Zimmer kam und dir die Bettdecke wegzog? Deine Eltern hatten mich nicht kommen hören, und sie sagten später …“

Gaspar hebt die Hand.

„Sie sagten, es müsse ein Elektrobrand gewesen sein.“ Atemlos schnappt er nach Luft. Etwas hatte sich über sein Bett gebeugt. Eine schwarze, stinkende Gestalt. Aber er hatte es immer für einen Traum gehalten.

Ich war es, Junge“, der Verbrannte lächelt ihn an, als wäre es eine Juxgeschichte. „Ja, ganz recht“, sagt er. „Niemand sonst war es, der das Feuer an dein Bett gebracht hat.“

Er kichert. Endlich ist es heraus. Am liebsten würde er es hinausschreien, brüllen. Aber es ist einfach zu lustig, viel zu lustig, um darüber zu lachen!

Er muss es ganz erzählen.

„Ich wusste von Anfang an, dass du etwas Besonderes warst. Ich hatte dich beobachtet, auf dem Nachhauseweg von der Schule, einige Wochen lang. Ich hatte es gerochen, dass etwas in dir war. Erinnerst du dich nicht? Erinnerst du dich wirklich nicht?“

Aber Gaspar erinnert sich. Er hatte etwas gefühlt vor dem Brand. Er hatte eigentlich immer etwas gefühlt, hatte gewusst, wenn einer krank war oder es bald werden würde. Nur so eine Ahnung, aber jedes Mal hatte er Recht behalten. Und tatsächlich, er erinnert sich, dass ihm jemand gefolgt war in den Tagen vor dem Brand. So regelmäßig und allgegenwärtig, dass er kaum noch Notiz davon genommen hatte. Wie der eigene Schatten war ihm dieser Verfolger vorgekommen. Als hätte es ihn immer schon gegeben.

„Du warst es“, sagt Gaspar, ohne dabei in Wut zu geraten.

Alles wird ihm mit einem Mal klar. Alles gewinnt Gestalt und erhebt sich aus dem Chaos des Schicksals. Es hatte nie einen Zufall gegeben. Alles war von Anfang an geplant. Das Feuer, die Schmerzen und jeder Schritt, der ihn schlussendlich bis an diesen düsteren Ort geführt hat.

Er deutet auf Suse, die neben ihm röchelt.

„Gehört sie zum Plan?“, fragt er und betrachtet sie abschätzig.

„Nicht wirklich“, sagt der Verbrannte, „aber manchmal braucht es eben einen Katalysator, damit etwas Feuer fängt, was gar nicht brennen will. Wenn du verstehst, was ich meine.“

Aber Gaspar versteht. Sie ist das einzige Glied der Kette, das zufällig hier ist. Völlig ohne Bedeutung. Nur Schmuckstück.

„Dann lassen wir sie gehen“, sagt er und betont das wir, als wären sie die gemeinsamen Verschwörer eines Attentats, das lange in der Vergangenheit vorbereitet wurde.

Der Verbrannte schaut auf ihn herab, und der Ekel steht ihm ins Gesicht geschrieben.

„Dann weg mit ihr!“

 

Gaspar hebt Suse vorsichtig hoch und spürt sie ganz und liest alle ihre Gedanken. Sie schaut ihn nur an, und diesmal lässt sie es zu. Ein Bienenschwarm dringt überall in sie ein, und alle Gedanken wandern fort aus ihr.

Gaspar hebt sie aus der Schüttung und lässt sie vorsichtig nach draußen gleiten.

Als er ins Innere des Riesen zurückkehrt, tanzen in seinen Augen winzige Flammen.

 

„Wenn du sie mir gelassen hättest, hätte ich mir ihre Seele geholt, Junge. Und kein Hahn hätte danach gekräht!“

Gaspar hält den Blick gesenkt, und die Arme hängen ihm schlaff von den Schultern herab.

Er hat das Gefühl, als könnte das Feuer in ihm jeden Augenblick eine Explosion hervorrufen, die den Hochofen und das ganze Gelände in Stücken reißen könnte.

Er spürt das Feuer mit all seiner Macht und hält den Blick gesenkt, weil er hofft, es könnte dem Verbrannten entgehen.

 

„Es ist mächtig in dir, Junge, aber nicht mächtig genug.“

Der Verbrannte lächelt und lässt Flammentürme aus seinen Handflächen empor tanzen. Sie schlagen hinauf zur Decke des Hochofens, die sich wie die Kuppel einer heiligen Kathedrale über ihren Köpfen erhebt.

Da steht er; eine violett glühende Silhouette in zehntausend Grad heißer Luft. Gaspar kann sich nicht einmal vorstellen, wie heiß es an der Stelle ist, an der der Verbrannte steht.

Aber er versucht es. Zum ersten Mal versucht er es. Und seine Gedanken nähern sich der Hitze.

 

Es ist anders als bei Suse. Eine Barriere umgibt den Verbrannten, ein Bollwerk, an dem Gaspars Gedanken abgeschmettert werden. Der Bienenschwarm, der so leicht in Suse und ihre Gedanken eindrang, umschwirrt den Verbrannten und wird immer wieder zurück geworfen, wenn er versucht, in ihn einzudringen. Gaspar richtet sich auf. Wie ein Boxer steht er da, nur mit offenen Handflächen. Er weiß nicht, wie es sein wird, wenn das Feuer aus ihm kommt. Aber es ist da.

 

Es ist überall in ihm!

 

Und dann geschieht es. Erst hüpfen ihm Flammenzungen über die Handrücken. Sie springen zu den Fingerspitzen und zurück, den Unterarm hinauf. Sitzen ihm wie brennende Spatzen auf den Schultern. Erst eins, dann zwei, dann ein ganzes Duzend von Feuerhälsen, die sich emporrecken und zu einer einzigen Flamme vereinigen.

Er hat es unter Kontrolle, denkt er. Und mit einem Mal schießt das Feuer in seine Hände und breitet sich wie eine Wand vor ihm aus. Die Schlackereste werden von der wabernden Luft empor gewirbelt und durch die Schornsteine ins Freie gerissen.

Gaspars Kleider verbrennen auf einen Schlag, und er steht dem Verbrannten nackt und Angesicht zu Angesicht gegenüber, als der, mitten im Feuer, einen einzigen Schritt auf ihn zu macht.

„Ich bin in der Hölle geboren, Junge!“, ruft er ihm zu.

 

„Dann sind wir schon zwei“, flüstert Gaspar.

Und er zieht seine Schultern eng an den Hals, bevor seine Augen zu glühen beginnen.

 

Erwachen.

Zuerst weiß Gaspar nicht, wo er ist. Es ist dunkel und stickig. Ein Blick über die Schulter, und er sieht sich selbst mitten in den Flammen stehen.

Ich bin in ihm, denkt Gaspar plötzlich. Irgendwie muss es ihm gelungen sein, in den Verbrannten einzudringen.

Aber er kann noch nicht seine Gedanken kontrollieren. Er ist nur in seinen Erinnerungen. Er ist tief in seiner Vergangenheit.

Gaspar muss an die Oberfläche. Er zwängt sich weiter und weiter empor, durch einen Berg von Körpern, bis er erst einen Arm und dann den Kopf an die Oberfläche bringt.

 

Es ist das Krematorium, von dem der Verbrannte gesprochen hat. Gaspar kann kaum atmen.

Er schaut seine Hände an, und er hört ein Zischen, das aus winzigen Öffnungen aus den Wänden dringt.

Sie spielen Musik, draußen an den Bahnsteigen.

 

Und dann kommt das Feuer! Und Gaspar schreit, weil es an und in ihm ist und er es mit jedem Atemzug in seine Lungen saugt.

Aber er stirbt nicht. Wie in einem Alptraum sieht er, wie seine Haut denaturiert, wie sich die Fingernägel von den Fingerkuppen lösen und abfallen. Kreischend hockt er auf dem Berg der Toten, der sich langsam in Asche verwandelt. Die Leiber werden steif, dann beginnen sie zu glühen und werden von heißen Aufwinden als weißer Ascheschnee empor gewirbelt.

 

Schreiend muss Gaspar mit ansehen, wie sein Körper langsam in diesem Ascheberg einzusinken droht. Wie ein kochendes Moor zieht es ihn hinab, und er sieht Gesichter, Arme und Beine zu Staub zerfallen. Jeder Körper, an den er sich wie an einen rettenden Fels klammert, wird spröde und löst sich auf.

 

Dann hört er die Stimmen. Sie kommen kriechend aus dem glühenden Morast herauf, flüsternd, betend. Es ist jene Sprache, die ihm so vertraut vorkam, als er sie aus dem Mund des Verbrannten zum ersten Mal hörte. So als könnte er sie verstehen und doch wieder nicht. Es ist die Sprache der Toten, denkt er. Es ist die Sprache jener Menschen, in deren Feuer er gerade versinkt und deren Körper sich zwischen seinen Fingern in Staub auflösen. Brennende Seelen, die aus den Leibern aufsteigen und vor seinen Augen eine schemenhafte Gestalt annehmen. Sie durchdringen selbst seine Hände, die er wie lodernde Fackeln vor sein Gesicht hält, um die Heraufflüsternden abzuschirmen. Es sind hunderte. Sie blasen ihre eingefallenen Wangen auf und prusten.

 

„WELN LEBN?“, raunen sie.

„WELN LEBN??“

Andere wiederum starren ihn an und tasten mit den Fingerspitzen nach dem verbrennenden Fleisch, das Stück um Stück von ihm abfällt.

 

„WELN LEBEN?“, fragen sie Gaspar immer wieder und nesteln Fleischstückchen von ihm ab.

Neugierig.

„WELLLN???“

„WELLLLLLEN LEEEBEN????“

 

Und ja, Gaspar will leben, will es um jeden Preis. Brüllt es hinaus, mit einer Stichflamme, die ihm aus Mund und Augen schießt.

Die Seelen aber beginnen sofort mit der Arbeit und nehmen ihm einen Schwur ab. Einen Schwur, der nie gebrochen werden kann, weil er in die Seele selbst graviert wird. Hinein gebrannt, wie mit einem glühenden Eisen. Name auf Name tragen sie dort auf, wo es niemals fort gewaschen werden kann und zu jedem Namen zeigen sie ihm ein Gesicht, das ihm in die Erinnerung geschmiedet wird.

Und Gaspar schwört. Schwört, dass er das Feuer in ihre Häuser tragen wird wie eine lebendige Fackel. Zu den Männern und Frauen in den schwarzen Uniformen, die sie wie Schlachtvieh hierher gebracht haben und wie Unrat auf einen Leichenberg gekippt.

Alle wird er sie finden wird, schwört er, wo immer sie auch seien. Und er wird ihnen das Feuer bringen, so wie sie selbst das Feuer brachten.

 

Dann versinkt er endgültig, während sie draußen bei den Bahnsteigen immer noch Musik spielen und Kinder Hand in Hand ins Verderben gehen.

Als sie die Eisenluken öffnen, rutscht sein verbrannter Körper in einem Gemisch von schmieriger, glühender Asche und halb verbrannten Knochenresten auf die Ladefläche eines Armeetransporters.

 

Auf dem Weg zu den Feldern macht sich die weiße, ausgekühlte Glut wie ein Traum von der Ladefläche davon und wirbelt flüsternd und raunend durch die Luft. Als sie anhalten und Gaspar mit der Asche wie Dünger auf dem Feld ausbringen, sind seine Arme und sein Gesicht bereits freigelegt.

Und wie ein Neugeborenes steht Gaspar endlich auf,

mit flammenden Augen. Er dreht sich um, und aus dem Verbrannten, aus dem Innersten seiner Seele, sieht er sich selbst in den Flammen stehen.

Ich weiß jetzt, wer er ist, denkt Gaspar.

 

Und ich weiß, wer ich bin …

 

Gleißend helles Licht über Minuten. Es ist nichts zu hören, außer dem Knistern des Feuers und dem Ächzen des glühendes Stahls und des Betons, der den Hochofen umschließt.

Im Inneren kämpfen Gewalten, eng umschlungen und mit Feuer und Gedanken aufeinander einstürmend.

Aber kein Laut von innen, kein Schrei.

Nur die lautlosen Kräfte, die mit aller Gewalt zusammenstoßen.

 

Suses Gesicht ist kochend heiß, während sie keuchend weiter und weiter von dem Hochofen fort kriecht. Fast glaubt sie, ihre Haut bekäme Risse von der ungeheuren Hitze, die von dort ausströmt.

Sie sieht den Stahl im Dunkel glühen. Selbst der graue Beton nimmt eine weiße, todbringende Färbung an.

Sie sucht Schutz hinter einer Reihe verrosteter Abfalltonnen, als die Stahlklammern am Bauch des schwarzen Riesen zu bersten beginnen und in alle Richtungen davon gesprengt werden. Die Ummantelung, die einmal Tausenden von Grad standgehalten hat, bricht an mehreren Stellen auf, an denen weiße Lichtstrahlen den Stahl wie ein Schweißgerät auftrennen.

Suse reißt die Hände vor das Gesicht und schreit. Die Hitze ist so stark wird, dass sie glaubt, sie müsse in Stücke springen.

 

Als Gaspar erwacht, sieht er zuerst Suse, die über ihm kniet und deren zierliche Hände in alter Glaswolle eingepackt sind. Zögerlich beginnt es zu regnen und eiskalte Tropfen perlen auf seiner Haut ab, wie von einer rot glühenden Herdplatte.

Er hat eine schwarze Brandspur hinterlassen, wo Suse ihn durch das verwilderte Grün des Stahlwerkgeländes nach draußen gezerrt hat.

Gaspar blinzelt, als ihn ein Regentropfen im noch glühenden Auge trifft. Und der Tropfen zischt als winzige Dampfwolke davon.

 

Die Regen wird stärker. Er hämmert auf ein altes Wellblechdach, und Gaspar fühlt sich wie ein weiß glühendes Stück Stahl, das man in den Schnee getaucht hat.

Langsam, ganz langsam kühlt er ab, und die Dampfwolken schweben wie Alpträume davon.

Dann nimmt er Suse in die Arme und sagt ihr, dass es vorbei ist. Er hat ihn besiegt, sagt er. Es ist ganz einfach, wenn man weiß, wie es geht.

Und sie küsst ihn und streicht zärtlich über das vernarbte Gesicht.

 

Von dem Gefühl, dass ihm jemand über die Schulter sähe, schrickt Gaspar neben Suse auf. Er will ihr keine Angst machen, und er schleicht sich ins Bad und spritzt sich das Wasser aus der Leitung in das heiße, rote Gesicht.

Er dachte, die Alpträume würden nachlassen, mit der Zeit, aber selbst nach Monaten sieht er alles noch so klar und deutlich, als wäre es gestern geschehen.

Als er mit den Fingerspitzen vorsichtig seine Wange berührt, kommt es ihm so vor, als wäre seine Haut trocken und brüchig. Beim Betrachten der Hände fällt ihm ein feiner Staub auf, der von den Handflächen rieselt, so als würde er an Konsistenz verlieren.

Dann schaut er in den Spiegel und sieht sich lächeln und sich zuzwinkern.

Na, Junge, alles klar bei dir?“

 

Und Gaspar will schreien, und er will zu Suse laufen, ins Schlafzimmer und sie wachrütteln.

„Er ist in mir!“, will er schreien und sich mit der Hand in den Schlund greifen, tief bis in die Eingeweide, um das schreckliche Wesen aus seinem Inneren herauszureißen.

Aber nichts dergleichen geschieht.

Sein Körper löscht das Licht im Bad und geht ganz ruhig zurück ins Schlafzimmer.

Suse erwacht kurz und fragt schlaftrunken, ob alles in Ordnung sei.

 

„Alles in Ordnung“, hört sie Gaspar sagen, der zu ihr unter die Bettdecke kriecht und mit seinen Händen ihr warmes Becken ganz dicht an seinen Schoß zieht.

„Könnte wirklich gar nicht besser sein“, flüstert er.

 

… und schaut hinaus aus dem Fenster, während seine Augen zu glühen beginnen.

Er hat es versprochen, denkt er. An einem Tag im Mai, als sie draußen bei den Bahnsteigen Musik spielten.

Er lauscht ihren Stimmen, den endlosen Gebeten. Auch Gaspars Stimme ist darunter, die aus dem Kanon der Seelen kaum noch herauszuhören ist.

Sie flüstern ganz leise. Kaum zu verstehen.

 

Er schnippt mit den Fingern, und schon sind sie still.

 

„Und es ward Licht“, sagt er und sucht in den schwarzen Fensteraugen der Stadt nach einem Gesicht, das ihm bekannt vorkommt.

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