Julia A. Jorges zu Gast beim Vincent Preis
Stell dir einen schlichten,
schwarzen Raum vor, zwei sich gegenüberstehende blutrote Kanapees, einen
schlichten, weiß lackierten Tisch, eine weiße Vase mit einer schwarzen Dahlie
zum Inhalt. Im Hintergrund hören wir Edith Piaf : https://www.youtube.com/watch?v=IxJQ8VKc4k4
VV: Moin Julia, herzlich
Willkommen hier beim Vincent Preis. Schön, dass du da bist. Was möchtest du
trinken?
JAJ: Hallo Vincent, danke für die Einladung. Ein schönes Ambiente hast du
geschaffen. Ich hätte gern einen Kaffee.
VV: Dein Roman „Wandelseele“ ist auf der Nominierungsliste des Vincent Preis
für den besten Horror-Roman. Wie fühlt sich das an? Rechnest du dir Chancen
aus?
JAJ: In der Hauptsache dreht er sich um zwei Themen – Wiedergeburt und
Energietransfer/-Vampirismus – und die Verknüpfung von beidem. Als Besonderheit
könnte man geltend machen, dass beides, wenn auch in abgewandelter Form, im
Bewusstsein vieler Menschen verankert ist, was man vom klassischen Vampir nicht
behaupten kann. Man muss nicht esoterisch angehaucht sein, um zu dem Schluss zu
gelangen, dass der Umgang mit manchen Zeitgenossen extrem auslaugend sein kann,
und diese als „Energievampire“ zu bezeichnen. Die Vorstellung einer allen
Lebewesen innewohnenden Kraft, wie sie der Psychiater und Forscher Wilhelm
Reich in den 1930er- und 40er-Jahren mit seiner Orgon-Theorie postulierte,
finde ich interessant, obgleich der wissenschaftliche Nachweis fehlt. Die
Überzeugung, schon mal gelebt zu haben, ist auch in der westlichen Welt gar nicht
so selten anzutreffen, und zumindest den Spruch vom „schlechten Karma“ haben
die meisten schon mal gehört.
VV: Ich fand zwei Dinge
besonders schön. Zum einen war da die wissenschaftliche Erklärung zu
„wandernden Seelen“ und zum anderen, dass er in Frankreich und recht viel in
Paris spielt. Du gibst ziemlich genaue Ortsangaben. Warst du vor Ort?
JAJ: Danke für dein Lob. Was die
theoretischen Hintergründe zur Seelenwanderung und den aus dem Energiezehren
gespeisten Fähigkeiten der Alten Seelen betrifft, musste ich mich tatsächlich
bremsen, um nicht noch ausführlicher zu werden und Gefahr zu laufen,
potenzielle Leser damit zu langweilen. Ich mag Geschichten, in denen das Übernatürliche
einem System folgt und es Erklärungen gibt, warum und wie beispielsweise Magie
funktioniert, alles, was dem Ganzen einen realistischen Anstrich gibt. In Paris
war ich mehrfach. Leider liegt auch der letzte Besuch Jahre zurück, aber ich
habe ein gutes Gedächtnis. Die Friedhöfe und andere Orte habe ich besucht, das
Moulin Rouge, in dem Sine und Darius sich auf ihre spezielle Weise näherkommen,
nicht. Ergänzend natürlich Internetrecherche.
VV: Mit Sine hast du eine
weibliche Hauptfigur gewählt, was, so scheint mir, selten ist im Horrorgenre.
Zudem gibt es ebenso einen oder mehrere love interests, was ebenso ungewöhnlich
ist. Geplant und geplottet oder haben dir die Figuren ihre Wünsche diktiert?
Ich mochte das übrigens sehr gerne lesen.
JAJ: Erstmal wollte ich Sine nicht zu stromlinienförmig
darstellen. Oberflächlich betrachtet ist sie die „nette junge Frau von
nebenan“, wenn man tiefer blickt, fällt mehr auf als nur ihre Abhängigkeit von
Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Immerhin schleppt sie ein verdrängtes Trauma
aus ihrer Kindheit mit sich herum.
VV: Mal ganz grundsätzlich … wie
bist du zur Idee gekommen?
VV: Was waren für dich die
größten Unterschiede zur Kurzgeschichte?
JAJ: Zu erkennen, welche Szenen
für ein ausführliches, detailliertes Eintauchen geeignet sind und was dagegen
höchstens angeschnitten werden sollte. Bei Kurzgeschichten gilt: so knapp und
pointiert wie möglich. Eine gewisse Herausforderung war es auch,
personenorientiert zu schreiben und Entwicklungen aufzuzeigen, Dinge, die in
einer kürzeren Erzählung nur eingeschränkt möglich und meist auch gar nicht
notwendig sind.
VV: Kommen wir nun in den
persönlicheren Bereich. Ich habe gelesen, dass dich für deine Kurzgeschichte
„Symbiose“ die Einstürzenden Neubauten inspiriert haben. Ein bestimmtes Lied?
JAJ: Kleine Korrektur, du meinst sicher „Diese verfluchten kleinen Dinge“,
erschienen in Zwielicht 12. Das Stück „DNS-Wasserturm“ von den Neubauten hat mich
auf Anhieb fasziniert, als ich es in den Achtzigern in der FFN-Radiosendung
„Grenzwellen“ kennenlernte. Die Vertonung eines Traumgeschehens, unterlegt mit
diesen hallenden, schrägen Klängen hat sich in meinen Hirnwindungen
festgesetzt. Als ich die „Kleinen Dinge“ schrieb, wusste ich, dass meine Story,
in der die Desoxyribonukleinsäure ebenfalls eine Würdigung erfährt, zum Stück
passt.
VV: Ich hatte früher einen
Lehrer, der meinte, wer Neubauten hört und mag, müsse krank sein. Ich habe
festgestellt, dass zumindest ein Hang zur Morbidität vorhanden war … Wie ist es
bei dir? Wie bist du zur Dunklen Phantastik gekommen?
JAJ: Klar kann man etwas, zu dem
man persönlich keinen Zugang findet, als krank, entartet etc. bezeichnen. Mit ähnlichen
Zuschreibungen sieht sich auch das Horror-Genre konfrontiert. Solcherart Diskreditiertes
besitzt meist die Eigenschaft, aufzurütteln, zu verstören, mitunter zu
ängstigen. Es ist aber nicht die Aufgabe von Kunst – egal welcher Art –
ausschließlich eine heile Welt abzubilden. Das Fremdartige, Hinter- und
Abgründige ist ebenso Bestandteil.
Was mich betrifft, so kann ich
den von dir erwähnten Hang zum Morbiden bis in meine Kindheit zurückverfolgen.
Von Grimms Märchen mochte ich am liebsten „Der Gevatter Tod“, außerdem meine
Sammlung russischer Volksmärchen, wunderschön in Fraktur gedruckt, die zumeist
einen düsteren Touch besitzen. Später las ich viel „Die drei ???“, störte mich
aber daran, dass die Phänomene sich samt und sonders als Tricks und Täuschungen
herausstellten. Mit elf Jahren entdeckte ich beim Stöbern im elterlichen
Bücherregal ein Werk mit dem vielversprechenden Titel „Im Reich des Grauens“
und versenkte mich sofort in die Lektüre von Jacobs „Affenpfote“, Poes „Der
Brunnen und das Pendel“ u. a. Nachdem 1985 „Friedhof der Kuscheltiere“ auf
Deutsch herauskam, lernte ich nach und nach einen Großteil der Werke Stephen
Kings kennen, der Lieblingsautor meiner Mutter ist (die weibliche Seite unserer
Familie besitzt wohl ein Horror-Gen, meine Tochter geht in dieselbe Richtung).
Als ich mit siebzehn Jahren auf Geschichten H. P. Lovecrafts stieß, war ich
hingerissen und las alles, was ich vom Autor zu fassen bekam. Musikalisch mag
ich es auch eher düster. Weil ich Musik mittlerweile fast ausschließlich zum
Laufen höre, begleiten mich die Neubauten aber eher selten.
JAJ: Die Vorstellung, zu
erblinden
VV: Was ist dein unheimlichstes
Erlebnis?
JAJ: Eine Bekannte hatte
unangekündigt die Stadt verlassen. Einige Zeit später klopfte es nachts an der
Tür meiner WG (Klingel gabʼs
nicht), mit demselben Klopfsignal, das die Vermisste sonst verwendete. Vor der
Tür stand niemand. Ich habe nie erfahren, was aus ihr geworden ist. Zufall? Ich
weiß es nicht.
JAJ: Ich glaube es nicht,
schließe es aber auch nicht kategorisch aus.
VV: Du schreibst ja unter mehreren Pseudonymen in verschiedenen Genres. Ziehst
du dir dann in der Öffentlichkeit jeweils verschiedene Häute an?
JAJ: Entschuldige, ich musste
lachen, weil ich mir das bildlich vorgestellt habe. Jetzt geht es wieder und
ich kann dir mit einem klaren Nein antworten. Das Projekt „Jule Fuchs“ hatte
mehr experimentellen Charakter: einen Roman in einem Genre schreiben, das ich
selbst nicht lese, Liebesroman. Schon an dem zähen Schreibprozess habe ich
gemerkt, dass das nicht mein Weg ist, aber wenn ich etwas anfange, beende ich
es auch. Ich behaupte mal, dass ich als Julia A. Jorges annähernd authentisch
bin, abgesehen von der Binsenweisheit, dass man immer irgendwie eine Rolle
spielt.
VV: Du hast Familie, einen Job … wie machst du das? Also, wann kommst du zum
Schreiben?
JAJ: Tatsächlich bin ich momentan ohne festen Job, dennoch hatte ich 2019 kaum
Zeit zum Schreiben, da ich in familiärer Hinsicht ziemlich gefordert war.
Dieses Jahr hat entspannter begonnen, sodass ich fast täglich schreibe, auch
wenn es manchmal nur das von mir festgesetzte Minimum von 200 Wörtern ist.
VV: Liest du denn selbst auch
noch? Wenn ja, was?
JAJ: Lesen ist für mich sehr,
sehr wichtig. Ich bevorzuge nach wie vor phantastischen Horror (a la Lovecraft,
Smith, Blackwood, Machen, Hodgson …) lese aber auch gern SF (zuletzt konnte
mich Cixin Liu begeistern), hin und wieder Historisches, Fantasy (Tolkien, John
Crowley). Ich mag Skurriles, Groteskes wie Roald Dahls Kurzgeschichten.
Außerdem lese ich regelmäßig Sachbücher, wobei die Themen wechseln.
VV: Gibt es für dich Vorbilder?
JAJ: Nicht konkret auf einen
Autor bezogen. Ich schätze, dass viele Geschichten einen Einfluss auf mein
eigenes Schaffen hatten und haben. Wenn mir eine Erzähltechnik, eine besondere
Perspektive usw. besonders gelungen oder ungewöhnlich scheint, speichert mein
Gehirn dies und integriert es an geeigneter Stelle in mein Schreibrepertoire,
sodass sich daraus neue Impulse entwickeln können. Nicht alles passt, vieles
wird verworfen oder stark modifiziert. Ich bin immer noch dabei, meinen eigenen
Stil zu entwickeln und denke, dass dies kein Prozess ist, der eines Tages
komplett abgeschlossen sein wird.
VV: Okay. Magst du verraten, was
du derzeit planst? Ich hörte so was wie Mystery-Öko-Thriller? Und ein
Jugendbuch?
JAJ: Das stimmt, gegenwärtig sitze ich an den letzten Kapiteln eines
phantastischen Öko-Thrillers, in dem die Natur sich gegen den Menschen wendet
und nicht nur im übertragenen Sinne zurückschlägt. Ein Stück weit schreibe ich
mir den Frust von der Seele, der sich schon in jungen Jahren in mir aufgebaut
hat angesichts der ökologischen Katastrophe, auf die diese Welt zusteuert. Mein
Fantasy-Kinderroman „Späterland“, in dem zwei Schüler in das Land hinter der
Regenbogenbrücke reisen, um den tierischen Bewohnern gegen eine Invasion
unheimlicher Wesen beizustehen, erscheint in den nächsten Monaten, ebenfalls
bei Shadodex – Verlag der Schatten.
VV: Vielen Dank, Julia, dass du
da warst. Ich drücke dir die Daumen, dass die „Wandelseele“ nominiert wird.
Verdient hätte sie es.
JAJ: Ich danke dir, lieber
Vincent.
Bullets (Wie aus der Pistole geschossen …)
VV: Weihnachten oder Silvester?
JAJ: Weihnachten
VV: Bier oder Wein?
JAJ: Filme finde ich bestenfalls beeindruckend, spannend oder auf andere Art unterhaltsam,
selten wirklich unheimlich; Literatur schafft das viel besser. Wirklich gegruselt
habe ich mich aber bei „The Fog“, als ich ihn das erste Mal sah, nachts,
allein, als Teenie.
VV: Warum?
JAJ: Die Atmosphäre ist meiner Meinung nach unübertroffen. Ein Teil war wohl auch
meinem jugendlichen Alter geschuldet.
VV: Lovecraft oder King?
JAJ: Lovecraft
VV: Liebe im Horror geht, weil …?
JAJ: … sie eine beinahe ebenso starke Emotion ist wie Furcht und wahnhafte oder
verschmähte Liebe oft genug den Hintergrund für Horrorgeschichten bildet. Die
meisten funktionieren aber sehr gut ohne diese Zutat, nicht selten auch ganz
oder nahezu ohne zwischenmenschliche Aspekte.
VV: Ein Horrorsetting, das niemals wahr werden darf?
JAJ: Hier fällt mir ausschließlich menschengemachter Horror ein. Ich möchte mir
nicht vorstellen, was noch kommen mag, tue es leider trotzdem zu oft.
VV: Warum?
JAJ: Der schlimmste Horror ist der reale. Dass
ich die übernatürliche Variante bevorzuge, hat auch, aber nicht nur, mit
Eskapismus zu tun.
VV: Du darfst mit einer/m Horrorschaffenden gemeinsam lesen, egal, ob tot oder
lebendig. Wer wäre das?
JAJ: Arthur Machen.
VV: Würdest du lieber Gedanken lesen oder fliegen können?
JAJ: Gedanken lesen
VV: Warum?
JAJ: Beim Fliegen hätte ich
Sorge, mit einer Drohne oder anderen Flugobjekten zu kollidieren. Spaß
beiseite: Ein Blick in den Kopf des Gegenübers wäre oft praktisch. Würde ich
aber nur wollen, könnte ich es gezielt einsetzen.
JAJ: Nervt es dich manchmal,
wenn dir Fragen zum Thema „Liebe und Horror“ gestellt werden?
VV: Und die Antwort?
JAJ: Ja. Aber ich nehmʼs nicht krumm. Lacht.
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