Interview Julia A. Jorges

 Das Gespräch führte Elmar Huber.



Vincent Preis: Liebe Julia, du hast bereits vordere Plätze beim Vincent Preis im Kurzgeschichten- und letztes Jahr im Romanbereich belegt. Deswegen möchte ich mal nicht mit der Vorstellung einsteigen, sondern mit der Frage: „Was hat dich als Autorin – vielleicht auch als Leserin – zur Fantastik gebracht? Welchen Reiz macht das Genre für dich aus?


Julia A. Jorges: Herzlichen Dank für die Einladung! Ich freue mich sehr, einmal mehr hier sein zu dürfen.

Um die Wurzeln meiner Begeisterung für das Phantastische freizulegen, muss ich tief in der Vergangenheit graben. Die Liebe zu Büchern packte mich bereits in früher Kindheit; zwischen den mehr oder weniger aussagekräftigen Buchdeckeln in den Regalen meiner Eltern und Großeltern schienen geheimnisvolle Welten auf mich zu warten. Ich ging meiner Familie gehörig auf die Nerven, weil ich ständig vorgelesen bekommen wollte. Um dieses Problem zu lösen, brachte ich mir mit vier oder fünf Jahren eigenmächtig das Lesen bei. Seitdem sah und hörte man nicht mehr viel von mir, da ich in meinem Zimmer über den Büchern hockte. Eine Zeitlang hatten es mir besonders russische Märchen angetan. Hinzu kamen Andersens und Grimms Märchen, außerdem erwachte mein Interesse für griechische und nordische Mythologie. Dazu las ich jede Menge Sachbücher, vorwiegend Geschichtliches und Naturkunde, und auch etliche reguläre Kinderbücher, meistens irgendwas mit Abenteuern und am liebsten mit einer mysteriösen Note. Mit unheimlicher Phantastik kam ich in Berührung, als mir im Alter von zehn Jahren eine Sammlung klassischer Horrorgeschichten in die Hände fiel. Es war Liebe auf den ersten Blick, würde ich sagen. Etwa in dem Alter las ich auch die Bibel, weil ich mir eine eigene Meinung bilden wollte (ich komme aus einem nichtreligiösen Elternhaus). Im Anschluss daran wurde ich zum Atheisten. 

Der größte Reiz der Phantastik liegt für mich darin, dass sie in die „reale Welt“ eine andere, fremdartige einbindet oder ihr diese entgegenstellt. Der Gedanke, es könnte mehr geben als nur das, was wir mit unseren begrenzten Sinnen begreifen, fasziniert mich. Ich bin aber viel zu faktenorientiert, um derlei ernsthaft in Erwägung zu ziehen. 




VP: Für das Jahr 2023 wurde deine Kurzgeschichte „Zweierlei Blut“ auf die Shortlist gewählt. Als eine Inspiration für die Kurzgeschichte dürfte Lovecrafts „Schatten über Innsmouth“, die Tiefen Wesen und die Ereignisse um das Teufelsriff gedient haben. Was bedeuten dir speziell Lovecrafts Geschichten, auch mit Seitenblick auf deine Geschichte „Samhain“ (in „Verbotene Bücher – Auf den Spuren H. P. Lovecrafts 3“)


JJ: Als Teenager habe ich die Erzählungen H. P. Lovecrafts sprichwörtlich verschlungen, viele mehrfach. Ich bin oft mit dem Zug von Goslar nach Hannover gefahren, weil es dort ein Bücher-Antiquariat gab, das viele Titel aus der alten Suhrkamp-Phantastikreihe führte.

Wie für zahlreiche andere Horrorautoren war und ist die von Lovecraft, R. E. Howard, C. A. Smith u. a. ersonnene kosmische Mythologie eine nie versiegende Quelle der Inspiration, auch und gerade aufgrund ihrer fehlenden Stringenz, ebenso die Werke Lovecrafts literarischer Vorbilder Arthur Machen oder Algernon Blackwood. Neben den Geschichten um die Tiefen Wesen war für die Entstehung von „Zweierlei Blut“ Lovecrafts Story „Der Außenseiter“ von Bedeutung, während „Samhain“ Parallelen zu „Das Fest“ aufweist.

Die Anziehungskraft, die Lovecrafts Geschichten vom ersten Lesen an auf mich ausübten, beruht gar nicht so sehr auf dem eher vordergründigen Gruseleffekt; vielmehr fühlte ich mich, so seltsam sich das anhören mag, auf unbestimmte Art darin „heimisch“. Ein Eindruck, der sich verstärkte, als ich Jahre später begann, Sekundärliteratur zu Lovecraft zu lesen. Ich nehme an, die innere Verbindung zu HPL und seinem Werk rührt her von einigen biografischen Parallelen, wie der Außenseiterrolle, die auch meine Kindheit prägte, einer gewissen Hochsensibilität, dem Hang zur Autodidaktik. Was heute an Lovecraft so unangenehm berührt, seine reaktionären, rassistischen Ansichten, kann und möchte ich nicht ausblenden, aber sein literarisches Vermächtnis als Ganzes wird für mich dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt.



VP: Wie ist deine Herangehensweise, wenn du eine solche Hommage verfasst und wie schafft du es, eine eigene Note in die Erzählungen einzubringen, bzw. wie wichtig ist dir eine eigene Note.


JJ: Auch wenn meine vorherige Antwort es nahelegt, steht für meine Lovecraft-Adaptionen selten eine bestimmte Geschichte Pate, in dem Sinne, dass ich mir vornehme, zu dieser oder jener etwas zu schreiben. Eher fließen einzelne Elemente mit ein, die stimmig zu meiner bereits vorhandenen Grundidee erscheinen. Ich plotte meist nur eine grobe Outline, der Rest ergibt sich während des Schreibens, einige Elemente auch erst beim Überarbeiten, weil mir noch irgendein Puzzlestück einfällt.

Lovecrafts Erzählungen sind überwiegend durch die Handlung bestimmt, die Aufgabe des Protagonisten besteht in erster Linie darin, das Unbegreifliche, den Schrecken für den Leser erfahrbar zu machen. Ausnahmen sind die Figuren, die mutmaßlich zumindest anteilig ein Alter Ego Lovecrafts darstellen, z. B. Randolph Carter. Andere bleiben eher austauschbar, mehr Archetypen als lebendige Persönlichkeiten. Häufig Wissenschaftler, die erst zweifeln, im Verlauf zu verstehen – oder zu glauben – beginnen und eine Faszination für das untersuchte Phänomen entwickeln, die ihnen nicht selten zum Verhängnis wird. Auch wenn ich diese handlungsorientierte Erzählweise sehr gern lese, versuche ich den Figuren und ihrer Entwicklung mehr Raum zu geben, soweit möglich auch in meinen Kurzgeschichten. „Zweierlei Blut“ unterscheidet sich in dieser Hinsicht von „Samhain“, weil ich den Protagonistinnen darin recht viel Bedeutung zumesse, während in „Samhain“ die einzige „Besonderheit“ darin besteht, dass es sich um eine weibliche Hauptfigur und Wissenschaftlerin handelt, im Gegensatz zu Lovecrafts durchweg männlichem Personal. Damit fälle ich aber kein Qualitätsurteil, im Gegenteil, „Samhain“ gehört nach wie vor zu meinen Lieblingsstorys.

Wie sicherlich die meisten Autorinnen und Autoren mit literarischen Vorbildern strebe ich, bei allen beabsichtigten Referenzen, Eigenständiges an, zudem Zeitgemäßes, bezogen besonders auf die Sichtbarkeit von Frauen. Auch sind mir Figuren wichtig, die nicht so „ticken“ wie die Mehrheit, das ist ein häufiges Thema vor allem in meinen Kurzgeschichten, aber auch Olve und Nihil in Hochmoor, meinem aktuellen Roman, sind keine Durchschnittstypen. Ausgrenzungs- und Mobbingerfahrungen oder psychische Erkrankungen, wie z. B. das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom in „Wo deine Schuld vergeben ist“ bilden in vielen meiner Geschichten den Hintergrund der Hauptfigur.



VP: Ein wiederkehrendes Element – auch in deinem Roman Glutsommer – ist die Vorstellung, dass es parallele oder im Verborgenen existierende Welten und Wesen gibt, die eigenen Gesetzen unterworfen sind, die sich aber unter bestimmten Bedingungen mit der „realen Welt“ überschneiden. Wie hat sich dieses Thema bei dir festgesetzt?


JJ: Geschichten, die im Alltäglichen verwurzelt sind, um die vermeintliche Realität dann durch Einbruch des Unfassbaren zu erschüttern und die menschliche Existenz infrage zu stellen, haben mich schon immer angesprochen. Im Grunde also das, was den Kern des Horrorgenres ausmacht. Das Unfassbare im Horror kann ja sowohl auf übernatürlichen Vorgängen beruhen als auch auf unbegreiflichen Taten von Menschen. Meine Vorliebe gilt ganz klar der übernatürlichen, in der Phantastik beheimateten Variante, wobei auch psychologischer Horror seinen Reiz hat, zudem schließt sich beides keineswegs aus. Wenn es um verborgene Welten geht, lässt sich wunderbar aus Mythen, Sagen und urbanen Legenden schöpfen. In Glutsommer war es die Gestalt der pŕezpołnica, der Mittagsfrau, aus dem slawischen Raum, in „Samhain“ treffen lovecraft’sche Motive auf keltische Mythologie. Die Löwensage meiner heutigen Heimatstadt Braunschweig ist Thema meiner allerersten Kurzgeschichtenveröffentlichung „Der Löwe“, und mein Beitrag in Zwielicht 9 nimmt sich eher augenzwinkernd der „Bielefeld-Verschwörung“ an.



VP: Dieses Jahr ist von dir bereits Hochmoor erschienen; ein Roman, der ebenfalls lovecraft’sche Mythen aufgreift. Magst du kurz skizzieren, was den Leser dort erwartet?


JJ: Hochmoor bezieht sich teils ganz konkret auf den Mythos, entsprechend darf mit dem einen oder anderen Tentakelwesen und Großem Altem gerechnet werden. Nicht alle sind eine Bedrohung für die menschlichen Hauptfiguren Olve und Nihil; eine der wie ich finde interessantesten Schöpfungen Lovecrafts spielt eine tragende Rolle.

Zugleich ist Hochmoor eine Hommage an den viel zu früh verstorbenen Autor Wilum „Hopfrog“ Pugmire, dessen lose miteinander verbundenen Geschichten rund um das Sesqua-Tal ich für das Beste halte, was es an modernen Lovecraft-Adaptionen gibt. Diese Ansicht teile ich u. a. mit S. T. Joshi, dessen Wort erheblich mehr Gewicht besitzt als meines. Mit W. H. Pugmires Tod 2019 verlor die Phantastikszene einen begnadeten Autor und überdies eine faszinierende, vielschichtige Persönlichkeit. Er gehört zu den Schriftstellern, die ich, gäbe es eine Zeitmaschine, sehr gern einmal kennenlernen würde. Pugmire gelang es, die Motive des von ihm verehrten H. P. Lovecraft auf unnachahmliche, oft poetische Weise zu interpretieren und ihnen ganz neue Seiten abzugewinnen. Sich selbst nannte er bescheiden „Lovecraft fan-boy“, aber auch gern einmal „W. H. Pugmire Esq.“, nach dem Vorbild Lovecrafts. Neben HPL zählten Oscar Wilde und Edgar Allan Poe zu seinen literarischen Ikonen, im Falle Poes unschwer an dem Beinamen „Hopfrog“ zu erkennen. Ein lesenswerter Nachruf, verfasst von Pugmires Co-Autor David Barker, ist auf der Seite des Bärenklau-Verlags nachzulesen (Link).

Zurück zu meiner Wenigkeit: Moment, ließe sich einwenden, „unnachahmlich“ und dennoch ein Roman als Hommage? Ja, denn obwohl ich Motive der pugmire’schen Geschichten aufgreife, ist Hochmoor kein deutsches Sesqua-Valley, das kann es gar nicht sein, sondern darauf ausgelegt, meine eigenen Ideen behutsam einzuflechten und auszubauen, wobei ich mich besonders von der Stimmung, die Pugmires Werke auszeichnet, inspirieren lasse.

Der Inhalt: Olve erhält von seiner seit Jahren vermissten Schulfreundin Nihil einen Brief, in dem sie ihn auffordert, sie in ihrer Heimatstadt Goslar zu besuchen. Olve folgt der Einladung und begleitet Nihil zu dem Ort, an dem sie die letzten 24 Jahre verbrachte, nicht ahnend, dass die Vorgänge in und um die Stadt Hochmoor sein Weltbild auf den Kopf stellen werden. Mit der ihm eigenen Nüchternheit akzeptiert Olve alle Seltsamkeiten und beginnt, sich in der Stadt heimisch zu fühlen, seine alte Freundschaft zu Nihil lebt wieder auf. Natürlich währt die Zufriedenheit nicht lange, denn kaum angekommen, gerät Olve in Lebensgefahr. Zudem hat er ein unangenehmes Zusammentreffen mit einer alteingesessenen Bewohnerin Hochmoors, die bei den meisten nur als „die schreckliche alte Frau“ [sic] bekannt ist. 

Manche Themen werden nur angerissen, um in den Folgebänden weiter ausgeführt und abgeschlossen zu werden, der etwas prologhafte Charakter des Buchs ist durchaus beabsichtigt. Die Geschichte um Nihil und Olve kommt jedoch zu einem (vorläufigen?) Ende.   


VP: Hochmoor 2 ist bereits für 2025 angekündigt. Wie geht es mit Olve weiter (soweit du das schon verraten möchtest)?


JJ: Es wird jedenfalls nicht einfacher für ihn, zumal er nun einiges an Verantwortung trägt. Er bekommt jemanden an die Seite gestellt, der im ersten Band noch nicht auftaucht. Ob diese Person ihn unterstützt oder sich eher als Hindernis oder gar feindlich erweist, bleibt aber abzuwarten. Übrigens, noch ein Stück weiter in die Zukunft geschaut: In Hochmoor 3 gibt es voraussichtlich ein Wiedersehen mit einer Figur aus „Samhain“. 


VP: Wie sieht es ansonsten aus in deiner Schreibwerkstatt? Was können die Leserinnen und Leser als Nächstes von dir erwarten?



JJ: Leider bin ich schneckenartig langsam, was das Schreiben anbelangt, daher wird meine nächste Veröffentlichung höchstwahrscheinlich Hochmoor 2 sein. Meine Story „Zwischen zwölf und Mittag“ ist erst kürzlich in Zwielicht 20 erschienen. Und von meiner Kurzgeschichtensammlung Zwielicht Single 2 wird es für die Buchmesse Leseflair in Braunschweig eine Neuauflage geben mit ein oder zwei zusätzlichen, bereits veröffentlichten Erzählungen. Möglicherweise interessant für Leser, denen eine meiner neueren Geschichten gefallen hat, die aber sonst noch nicht so viel von mir kennen. In meinem Kopf spukt außerdem die Vorstellung von einem Band regionaler Horrorstorys herum, mit einigen alten, überarbeiteten Geschichten sowie ein paar neuen, die aber erst noch geschrieben werden wollen. Wann diese Gedankenspiele zu einem konkreten Vorhaben reifen, kann ich aber noch nicht sagen.   


VP: Vielen lieben Dank für das Interview


JJ: Ich habe zu danken. 


PS

Ein Auszug aus „Zweierlei Blut“ als PDF zum Herunterladen sowie weitere Einblicke in meine Texte finden sich hier.   



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