Stell dir einen schlichten,
schwarzen Raum vor, zwei sich gegenüberstehende blutrote Kanapees, einen
schlichten, weiß lackierten Tisch, eine weiße Vase mit einer schwarzen Dahlie
zum Inhalt. Im Hintergrund hören wir Die Einstürzenden Neubauten: Einstürzende Neubauten live
at Primavera Sound 2015 - YouTube
VV: Moin Julia, herzlich
Willkommen hier beim Vincent Preis. Schön, dass du da bist. Was möchtest du
trinken?
JAJ: Hallo Vincent, danke für die Einladung. Ein schönes Ambiente hast du
geschaffen. Ich nehme einen Kaffee, schwarz.
VV: In deinem neuen Roman Glutsommer
geht es sehr heiß zu. Hast du den im Sommer geschrieben? Oder wie kam dir die
Idee zu diesem Setting?
JAJ: Die Idee entstand aus einem
Eindruck heraus. Dazu muss ich etwas ausholen: Ich laufe gern und regelmäßig,
meistens morgens, wenn wenig Leute unterwegs sind und die Luft angenehm frisch
und kühl ist. Letzteres bezieht sich natürlich auf die Sommermonate. Hin und
wieder bin ich aus Termingründen gezwungen, auf die Mittagszeit auszuweichen. Nebenbei
bemerkt: In der Tageshitze zu laufen ist definitiv nicht weiterzuempfehlen. Ich
renne immer ein Stück über die Felder, bevor es in den Wald geht. Mittags
herrscht eine ganz andere Atmosphäre als früh am Tag. Die flirrende Luft über
den Äckern, das grelle Licht, der heiße Wind – das hat etwas Unwirkliches. Mir
kamen die slawischen Mythen um die pŕezpołnica, die „Mittagsfrau“, in den Sinn.
Diese besondere, eindrückliche Atmosphäre habe ich mich in der Szene
einzufangen bemüht, die der Kindesentführung vorausgeht: „Im gleißenden
Sonnenlicht glich das Feld einem Backofen, über dem die Luft flimmerte. Eine
Brise fuhr über die offene Landschaft, aber sie war trocken und heiß wie
Wüstenwind und brachte keine Erleichterung. Winzige Staubkörnchen prickelten
auf Titus’ Armen und Gesicht. Das Zirpen der Grillen verschmolz für Sekunden
mit dem Summen der Hochspannungsleitungen, deren Trasse den Weg kreuzte.“ Im
Sommer 2018 verknüpfte sich das Mittagsfrauen-Thema mit einem Zeitungsartikel
über eine „Elfenbeauftragte“, die unfallträchtige Streckenabschnitte der A2
untersuchte, um diese „energetisch zu versiegeln“, wie es hieß. Weitere
Mosaiksteine gesellten sich hinzu, nicht zuletzt Einflüsse aus John Crowleys eindrucksvollem
Werk Little Big, ebenso
Horrorelemente. Ich notierte alles, aber ernsthaft mit dem Schreiben des Romans
begonnen habe ich erst im Herbst/Winter 2019.
VV: Neben Wandelseele,
den du ja selbst nicht als reinen Horror-Roman siehst, ist Glutsommer in meinen Augen auch … anders. So richtig einordnen kann
ich ihn nicht, weil er sozusagen die Schubladen sprengt. Ist das eine bewusste
Entscheidung gewesen?
JAJ: Ja und nein. Nein insofern, dass ich nicht plante, einen Roman zu
schreiben, der sich schwer in ein bestimmtes Genre pressen lässt. Aus
Marketingsicht wäre das auch nicht sonderlich schlau. Ja, weil ich ein
realistisches Setting wollte mit einem fantastischen, in Teilen
surrealistischen Anteil als Parabel auf die Umweltproblematik. Wandelseele ist Urban-Fantasy mit ein
bisschen Horror, Glutsommer läuft
unter „Mystery-Thriller“. Alles in allem passt das ganz gut.
VV: Ohne zu viel zu verraten,
Konzepte aus deinem Roman Wandelseele
finden sich auch hier wieder. Ist das dein roter
Faden? Oder wie gehst du beim sogenannten Weltenbau vor?
JAJ: Für Wandelseele habe ich deutlich mehr Weltenbau betrieben, was ja in
fast allen Spielarten der Fantasy unerlässlich ist. Auch in meinem
Jugend-Fantasy-Roman Späterland – Die
Welt hinter der Regenbogenbrücke, der 2020 erschien, war dies der Fall. Aber
– ich erwähne das, weil es manchen Lesern vielleicht nicht ganz klar sein mag –
Fantasy ist nicht Fantastik. Fantastik ist kurz gesagt der Oberbegriff. Glutsommer ist somit ein fantastischer
Roman, aber keine Fantasy. Inhaltlich ergab sich vieles „organisch“, auch wenn ich
vorab den Handlungsablauf grob plante. Ich bin weder Bauchschreiber noch plotte
ich bis ins Detail. Am herausforderndsten war, Übergänge von der realen Welt in
die „Elementarebene“ zu schaffen, die individuell zu den Figuren passen und
nicht abgedroschen sind wie Türen, Spiegel, Schränke usw., die klassischerweise
in Parallelwelten führen.
VV: Der Titel gibt ja das Thema,
das Setting vor. Bei dir spielen Probleme des menschgemachten Klimawandels eine
große Rolle. Warum hast du das Setting gewählt?
JAJ: Seit ich mit 8 Jahren vor
einer Weltbevölkerungsanzeige stand, treibt mich die Sorge um, was die ständig
wachsende Menschheit mit diesem Planeten anstellt. Glutsommer ist mein kleiner, persönlicher Beitrag, die
selbstgefällige Spezies Homo Sapiens ein wenig aufzurütteln.
VV: Ich finde gerade das
unglaublich toll umgesetzt. Du schaffst eine sehr aktuelle und bedrohliche
Lage. Du lässt viele Beobachtungen einfließen, beschreibst sie gut. Wie lebst du eigentlich? Stadt oder Land? Nimmst du den Klimawandel wahr?
JAJ: Vielen Dank für dein
Lob. Ich lebe am Rand einer mittleren Großstadt, könnte mir aber auch ein
Häuschen im Wald vorstellen. Den Klimawandel nicht wahrzunehmen, dazu müsste man wohl beide Augen fest
verschließen. Für mich lautet die Frage eher, wie intensiv ich ihn wahrnehme.
Leider sehr intensiv, und von Jahr zu Jahr wird es schlimmer. Wie erwähnt bin
ich laufenderweise häufig im Wald unterwegs und dort kontinuierlich mit den
Folgen der Dürre konfrontiert. Abgestorbene Äste und ganze Bäume in noch nicht
dagewesenem Ausmaß, bei denen abzusehen ist, dass sie in Kürze einem der
ebenfalls stärker und häufiger werdenden Stürme zum Opfer fallen. Immer weniger
Insekten- und Vogelarten. Die schwindende Biodiversität ist ein Prozess, den
Rachel Carson bereits 1962 in ihrem Werk Silent
Spring beschrieb.
VV: Meinst du, es wird bald eine
Kategorie „Klimahorror“ geben? Könntest du mit so einer Schublade leben?
JAJ: Wir steuern in rasantem Tempo auf den bzw. dieKipppunkt(e) zu, von da an wäre die Klimakatastrophe nicht mehr zu stoppen. Aus diesem Grund
halte ich es für wahrscheinlich, dass sich auch das Fantastikgenre vermehrt
damit auseinandersetzt. Was mich betrifft, so ist die Umweltthematik zwar ein
großes Thema für mich, aber beileibe nicht das einzige. In mein aktuelles
Projekt wird es zwar mit einfließen, aber nur am Rande.
VV: Im Gegensatz zum Vorgänger,
ist dein Romanpersonal ziemlich normal. Abgesehen von kleinen Ausnahmen oder
Dingen, die im weiteren Verlauf deiner Geschichte von Bedeutung sind. Und sehr
alltäglich sind auch ihre Sorgen. Beziehungsstress, Lebenssinnkrisen. War das
für dich ein Unterschied? Und wie hast du das konzipiert?
JAJ: Ich muss dir widersprechen.
Abgesehen von dem Ehepaar Volkmer, dessen Sohn entführt wird, sind meine
Charaktere eher skurrile Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer Überzeugungen und
ihres Verhaltens am Rand der Gesellschaft stehen, indem sie z. B. mit
unsichtbaren Wesen kommunizieren oder obsessiv dazu forschen. Es verwundert
mich etwas, dass du speziell auf die Einbeziehung des Alltäglichen abhebst.
Viele Autoren, nicht zuletzt Stephen King (mit dem ich mich nicht messen will),
verfahren ähnlich, lassen das Übernatürliche in den Alltag einsickern oder zerstören
ihn jäh. Des Weiteren interessiert mich, wie Menschen mit Schicksalsschlägen umgehen
oder damit, sich nirgends zugehörig zu fühlen, siehe Benjamin und Mona, teils
auch Claaßen und Ronja. Allerdings vermute ich, mit „normal“ zielst du mehr darauf
ab, dass sie keine besonderen Fähigkeiten besitzen wie die Figuren in Wandelseele, sondern im Großen und
Ganzen gewöhnliche Menschen sind. Wobei … So ganz trifft das auch nicht zu, nicht
auf alle.
VV: Glutsommer ist im BLITZ-Verlag erschienen. Wie kam es zur
Zusammenarbeit? Ach ja, Herzlichen Glückwunsch übrigens dazu.
JAJ: Vielen Dank! Das geschah
schnell und unspektakulär. Ich habe Jörg Kaegelmann vom BLITZ-Verlag Exposé und
Leseprobe geschickt mit der Frage, ob Interesse bestünde, und er hat wenig
später zurückgeschrieben, dass er den Roman haben möchte.
VV: Jetzt nach dem zweiten
Roman. Wie beurteilst du den Unterschied zwischen Romane und Kurzgeschichten
schreiben?
JAJ: Korrektur: Glutsommer ist mein
4. Roman. Zwischen ihm und Wandelseele
kam das oben erwähnte Späterland
heraus. Und vorher habe ich einen – ich wage es kaum zu sagen – Liebesroman
veröffentlicht, ein Genre, das mir völlig fremd ist. Meine damalige Agentur fragte
mich danach, und dummerweise sagte ich zu. Die zäheste Schreibarbeit ever, aber
wenn ich eine Sache beschließe, ziehe ich sie durch. Zurück zu deiner Frage:
Unterschiede gibt es jede Menge. Ich beschränke mich mal auf die beiden, die
mir am wichtigsten erscheinen, ohne verallgemeinern zu wollen. Die kurze Form
bietet sich mehr zum Experimentieren an, da kommen so schräge Storys wie die von
dem Stück „DNS/Wasserturm“ der Einstürzenden
Neubauten inspirierte „Diese verfluchten kleinen Dinge“ heraus oder „Panta
rhei – Alles fließt“, die erscheint demnächst in Zwielicht Classic 17.
Den zweiten wesentlichen Unterschied sehe ich darin, dass in einer Kurzgeschichte
die Handlung in aller Regel wichtiger ist als die Charaktere, u. a. weil die
Entwicklung, die eine Figur typischerweise im Roman durchlebt, ganz oder
weitgehend fehlt. Das kommt mir entgegen, weil ich gern mehr handlungs- als
personenorientierte Geschichten lese und schreibe. Ausnahmen bestätigen die
Regel. Protagonisten abseits gesellschaftlicher Normen und Klischees
interessieren mich sehr.
VV: Gibt es etwas, das du mit
deiner jetzigen Erfahrung anders gemacht hättest? Beim Schreiben, meine ich?
JAJ: Ich hätte nicht auf die
„Anregung“ der Agentur gehört (siehe letzte Frage).
VV: Ist Schreiben auch eine Art
Ventil für dich? Könntest du auch Nicht-Schreiben?
JAJ: Definitiv. Schreiben ist
meine Art, mit der Welt in Kontakt zu treten, da ich ansonsten recht
zurückgezogen lebe und im Reallife außerhalb meiner Kernfamilie kaum nennenswerte
Kontakte pflege. Geschichten habe ich schon als Kind verfasst, bis hin zu einem
Kurzroman. Wenn ich eine Zeitlang nicht schreibe, werde ich unruhig und
unleidlich.
VV: Spielt es für dich im
Literaturbetrieb eine Rolle, dass du eine Frau bist? Findest du Frauen in dem
Genre unterrepräsentiert?
JAJ: Zu Frage 1: Eher nicht. Ich
empfinde mein Geschlecht als nicht so stark identitätsbildend, zumindest nicht
mehr oder weniger als andere Faktoren, wobei ich bestimmte Auswirkungen auf
meine Biografie nicht abstreiten will. In erster Linie sehe ich mich jedoch als
Menschen mit bestimmten Charakterzügen, Denk- und Verhaltensweisen. Oft lese
ich, die Hürden für männliche Autoren seien in vielen Genres, die nicht unter Krimi
oder Liebesroman fallen, niedriger als für weibliche, weshalb einige ein
männliches Pseudonym wählen. Es wird also etwas dran sein. Ich kann aber nicht
beurteilen, ob es einer männlichen Version von mir leichter oder schwerer
fiele, im Literaturbetrieb Fuß zu fassen (schwierig ist es allemal), das ist Spekulation
und müßig.
Zu Frage 2: Ich bin nicht
qualifiziert zu sagen, ob Frauen in der fantastischen Literatur auch heute noch
unterrepräsentiert sind, dazu müsste ich die Zahlen kennen. Analog zur ersten Frage
halte ich das je nach Genre bzw. Untergenre durchaus für möglich, aus vielerlei
Gründen. Alle Spielarten der Fantastik zusammengenommen, habe ich allerdings nicht
diesen Eindruck.
VV: Was können wir denn in der
Zukunft von dir erwarten? Hast du aktuelle Projekte, an denen du arbeitest?
JAJ: Der nächste Roman wird eine
Hommage an H. P. Lovecraft sein. Die ist überfällig, habe ich doch in Richtung des
von mir heißgeliebten kosmischen Horrors bislang nur eine einzige
Kurzgeschichte geschrieben: „Samhain“, enthalten in der Anthologie Verbotene Bücher – Auf den Spuren H. P.
Lovecrafts 3, erschienen 2015 im Verlag Torsten Low. Übrigens meine
allererste Story, die ich zu einer Ausschreibung einreichte. Einige
Kurzgeschichtenideen möchte ich nach und nach umsetzen, aber der Schwerpunkt
wird auf der Roman- oder Novellenform liegen. Mich auf ein spezielles Genre festzulegen,
fällt mir schwer, die grobe Klammer wird jedoch aller Voraussicht nach auch
zukünftig die Unheimliche Fantastik liefern.
VV: Vielen Dank, Julia, dass du Dir
Zeit genommen hast. Ich freue mich schon sehr auf weitere Geschichten aus
deiner Feder!
JAJ: Ich danke dir für die
freundliche Einladung, Vincent. Und dito, ich freue mich auch, bald mal wieder
etwas von dir zu lesen!
Bullets (Wie aus der Pistole geschossen …)
VV: Sommer oder Winter?
JAJ: Herbst.
VV: Berge oder Meer?
JAJ: Ich fahre nicht in Urlaub.
Sicher hat beides seinen Reiz.
VV: Wo kannst du am besten
Abschalten?
JAJ: Am Schreibtisch oder beim Laufen.
VV: Musik? Wenn ja, deine Top 3?
JAJ: Gothrock, Horrorpunk, Experimentelles, ein bisschen Metal. Auf 3 Top-Titel
kann ich mich nicht festlegen, ich nenne mal 3 Bands: Fields of the Nephilim, Current
93, Nim Vind.
VV: Deine Erfahrung aus der Pandemie, die dir geholfen hat?
JAJ: Ich kann sehr gut sehr lange Zeit mit mir alleine sein. Das war mir aber
schon vorher bewusst.
VV: Warum?
JAJ: Ich bin kein geselliger Mensch und habe (zu) viele Interessen.
VV: Wenn du ein Monster sein dürftest … welches wärst du?
JAJ: –
VV: Was ist deine Superkraft?
JAJ: –
VV: Wärst du gerne unsterblich?
JAJ: Ja.
VV: Warum oder warum nicht?
JAJ: Ich hätte ausreichend Zeit, all das zu lesen und zu lernen, was mich
interessiert.
VV: Sturm oder Gewitter?
JAJ: Gewitter.
VV: Was wünscht du dir für die
Zukunft?
JAJ: Gesundheit sowie Muße zum
Lesen, Lernen und Schreiben. Das wünsche ich übrigens auch dir, lieber Vincent!
Und den Leserinnen und Lesern dieses Interviews ebenfalls – mindestens die
ersten Punkte.
Weitere Infos: www.juliaanninajorges.de
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