Interview mit Dr. Utz Anhalt
Stell dir einen schlichten, schwarzen Raum vor, zwei sich gegenüberstehende blutrote Kanapees, einen schlichten, weiß lackierten Tisch, eine weiße Vase mit einer schwarzen Dahlie. Im Hintergrund hören wir Dead can Dance – Spleen and Ideal
VV: Moin Utz, schön, dass du da bist. Nimm bitte Platz. Was magst du trinken?
UA: Eine Club Mate
VV: Du hast im REDRUM-Verlag den Roman „Die Bluthochzeit“ herausgebracht. Recht spannend und sehr unterhaltsam, wie ich finde. Aber auch sehr blutig, aber dazu später. Wie bist du denn zu dem Verlag gekommen?
UA: Steffen Quaer ist Historiker wie ich und Lovecraft-Nerd wie ich. Wir
tauschen unsere neuen Geschichten aus, lektorieren sie, inspirieren uns und
sammeln neue Ideen. Steffen lernte Michael Merhi kennen, den Verleger von
REDRUM und beide kamen überein, eine Reihe „Lovecrafts Erben“ zu starten mit
Erzählungen, die in Bezug zu den Lovecraftschen Welten stehen. Der erste Band
wurde Steffens „Die Alten und andere kosmische Schrecken“. Steffen schlug
Michael mich für den zweiten Band der Reihe vor, daraus wurde „Das
Necronomicon“, das jüngst bei REDRUM erschien. Michael fragte mich gleich, ob
ich auch einen Roman schreiben will, und da ich mitten in meiner fantastischen
Horroradaption des Bartholomäus-Massakers saß, stimmte ich sofort zu.
VV: Und wie kam dir die Idee? Es ist ja ein historisches Setting, die Bartholomäusnacht …
UA: Ich kam auf die Idee der Bluthochzeit, weil ich Realgeschichte mit Lovecraftschem kosmischen Horror zu einer Parabel auf das Böse fantastisch ausmalen wollte. Ich entschied mich dann für die Bartholomäusnacht mit dem Vorteil, dass ich das Tagebuch von Marguerite de Valois gelesen hatte und durch einen nicht fiktiven Beitrag im Geschichtsmagazin Karfunkel mit dem Geschehen, den Personen und dem tödlichen Game of Thrones des Pariser Hofes vertraut war. Zudem ist die Renaissance sowie meine Lieblingszeit - auch als Historiker.
Daran reizt mich, dass es eine Epoche des Umbruchs und der Extreme
ist, in der Gegensätze nahtlos ineinander fließen: Religiöser Fanatismus und
rationale Wissenschaft, Hexenverfolgung und die Idee des Individuums,
Machiavelli und Savonarola. Catherine de‘Medici, eine extrem intelligente und
hoch gebildete Frau, die ihrer Zeit in vielem voraus war, hat mich schon immer
fasziniert.
Das Bartholomäusmassaker, das schlimmste religiöse Verbrechen im
Frankreich des 16. Jahrhunderts, bietet Stoff für einen rein historischen
Roman: Glaubensstreit und Niedertracht, der entfessselte Mob auf den Straßen,
zerrissene Loyalitäten, Terror gegen Andersdenkende, rauschende Feste und
nacktes Überleben, Sex, True Crime und der Kampf um die Macht.
Für ein surreales Setting, das in metaphysischen Horror übergeht,
bietet das reale Geschehen Steilvorlagen. Welche Rolle spielte Catherine
de‘Medici? Wollte sie mit der Hochzeit zwischen ihrer katholischen Tochter und
dem protestantischen König von Navarra die verfeindeten Konfessionen versöhnen,
und dieser Plan scheiterte auf schlimmste Art und Weise? Oder fädelte sie die
Hochzeit ein, um die Protestanten in die Falle zu locken?
Was trieb den jungen König Charles von Frankreich, das Todesurteil
gegen Admiral Coligny zu unterschreiben, der ihm ein Ersatzvater gewesen war?
Auch Catherine de‘Medicis Widersprüchlichkeit zwischen rationalem Pragmatismus
und Okkultismus, laden geradezu ein, dämonische Wesen einzuführen. Die absurden
Liebeszauber zum Beispiel habe ich nicht erfunden, sondern es sind
Originalrezepte.
Für eine Parabel auf das Böse hat die Bartholomäusnacht zwei
Vorteile: Zum einen ist das Denken für uns heutige Menschen nah genug, um
Realgeschichte zu zitieren, ohne ahistorische Klischees zu verbreiten. Zum
anderen ist die Zeit aber so fremd, dass wir die Distanz haben, um den Kopf
schütteln vor der Sinnlosigkeit der Gewaltexzesse und den aus heutiger Sicht
absurden Begründungen. Dabei gebar das 20. Jahrhundert zwei Weltkriege,
Faschismus und Stalinismus, also Dimensionen des Grauens, die das Massaker 1572
weit in den Schatten stellen.
Egal, wie sehr wir die Bartholomäusnacht durchanalysieren, es
bleibt eine Dimension der Surrealität, des Psychotischen, des Traumatischen, in
der die Koordinaten, in denen die Zeitgenossen und wir selbst uns bewegen keine
Gültigkeit mehr haben. Opfer, aber selbst Täter basteln sich Erklärungen für
das, wofür sie keine Erklärung haben.
Eine Figur wie Azatak eignet sich hier als Metapher, die gerade
deshalb abgrundtief böse ist, weil sie jenseits von Gut und Böse existiert, die
Träume vergiftet, wie der persische Ahriman die Menschen zum schlechten Denken
und schlechten Handeln treibt. In seinen tausend Masken ist es gerade seine
Gestaltlosigkeit, die entsetzt. Denn, wie Steffen Quaer schrieb, dieses
unförmige Böse wuchert in jedem von uns.
VV: Die Bluthochzeit hat ja durchaus cthuloide Anklänge, Ist der Kosmos eine Inspiration für dich? Beim Schreiben oder durch Rollenspiel vielleicht?
UA: Natürlich. Lovecraft begleitet mich seit meinen Teenagerjahren, und wenn ich fantastischen Horror schreibe, beziehe ich mich gerne auf cthuloide Welten. Meine Anthologie „Necronomicon“ bei REDRUM zitiert ausdrücklich Lovecraft, allerdings in einem sehr eigenen Bezug. Lovecrafts Geschichten und das Compendium Mystica stehen griffbereit neben dem Laptop, und die Leichenfresser in der Seine haben nicht zufällig Anklänge an Lovecrafts Mondbestien. Lovecrafts Nyalarhotep hat durchaus Gemeinsamkeiten mit dem zoroastrischen Ahriman und dem christlichen Teufel, und für meine Bluthochzeit war das wie ein Joker: Azatak.
VV: Ja, das glaube ich. Du hast ja Geschichte und Politik studiert und darin
promoviert. Da würde mich ja interessieren, wie du zu deinem Roman recherchiert
hast und auf welche Quellen du zurückgreifen konntest?
UA: Zu dieser fantastischen Variante der Bartholomäusnacht inspirierte mich mein
historischer Beitrag in meiner Reihe „Geschichte (n) des Grauens“ in „Karfunkel
– Zeitschrift für erlebbare Geschichte“. Dabei kam ich in den Fluss durch die
kurze Erzählung aus der Sicht Marguerites in „Bloody Sunday“ in John Canning
(Ed.): 50 true tales of terror.
Zu den Sachbüchern, die mir als Quelle dienten, zählte Benedetta
Craveris „Königinnen und Mätressen. Die Macht der Frauen – von Katharina de
Medici bis Marie Antoinette“ ebenso wie Anka Muhlsteins „Königinnen auf Zeit.
Katharina von Medici, Maria von Medici, Anna von Österreich“ und Simon P.
Widmanns „Die Bartholomäusnacht des Jahres 1572“. Wertvoll war auch Leonie
Friedas „Catherine de Medici. Renaissance Queen of France“.
Zur Kleidung vertiefte ich mich in Gundula Wallers „Die Verpackung
des männlichen Geschlechts. Eine illustrierte Kulturgeschichte der Hose“. Bei
Nostradamus bezog ich mich unter anderem auf „Nostradamus. Die Prophezeiungen“,
1850 von Eduard Rösch ins Deutsche übertragen. Ein Standardwerk zum
safawidischen Iran ist Abbas Amanats „Iran. A modern history.“
Ich zehrte ebenso von belletristischen Aufarbeitungen des Stoffs,
und dabei besonders von Jean Plaidys „Queen Jezebel“, dem dritten Teil ihrer
Medici-Trilogie. „Margot – Die Bartholomäusnacht“, ein Kapitel aus Heinrich
Manns Werks zur Lebensgeschichte des Königs von Navarre und später Frankreichs,
Henri IV, eignete sich, um ein Bild vom Pariser Hof zu entwerfen.
Der Roman „Katharina von Medici“ von Cornelia Wusowski schließlich
zeigt Catherine in einer Vielschichtigkeit als Freundin der Künste, die Krieg
verabscheute, aber Intrigen in Meisterschaft beherrschte, was es mir
ermöglichte, die Klischees über die „Schwarze Königin“ zu entzerren.
Last but not least erkennen Freunde der schwarzen Romantik in
Marguerites Traum nach dem Paradis‘amour Anklänge an die „Maske des roten
Todes“ von Edgar Allan Poe. In meinen Augen ist Fürst Prosperos Maskenfest eine
der besten Kurzgeschichten, die jemals geschrieben wurde, und ich musste beim
Massaker im Louvre immer wieder daran denken.
VV: Ungewöhnlich für historische Stoffe ist nach meiner Lesart die
Ich-Perspektive. Magst du verraten, warum du die gewählt hast? Die
Ich-Perspektive der Marguerite?
UA: Marguerite war als königliche Braut eine zentrale Figur des Geschehens. Zugleich war sie für das Massaker nicht verantwortlich und stand ihm hilf- und auch fassungslos gegenüber. Damit eignet sie sich optimal, um den Leser in den Strudel hineinzuziehen. Noch wichtiger ist aber, dass Marguerite die einzige Augenzeugin des Massakers im Innern des Louvre ist, die ihre Erlebnisse aufschrieb. Ihr Tagebuch und ihre sonstigen Hinterlassenschaften geben tiefe Einblicke in Marguerites Denken und füllen sie als literarische Figur mit Fleisch und Blut. Wenn ich einen rein historischen Roman geschrieben hätte, hätte ich keine Ich-Perspektive verwendet. Hier wollte ich durch die erste Person die Distanz des Lesers aufbrechen.
Das Buch beginnt mit einer traumatisierten Frau, die das
auslösende Trauma niederschreibt, das sie nicht verstehen kann. Um die Lesenden
in diesen surrealen Bereich zwischen Wahn und Wirklichkeit zu ziehen, hielt ich
die Wahrnehmung der Ich-Perspektive wichtig.
Der Horror läuft ja auf drei Ebenen: Einmal die sehr reale
drastische Gewalt des Massakers, dann die surreal psychotische Wahrnehmung
Marguerites und dann das kosmische Grauen Azataks. Alle drei Ebenen bedingen
sich, und dafür bietet es sich an, die wahnhaften Momente aus der Perspektive
derer zu schreiben, die sie erlebt.
VV: Du beschreibst explizit die Gräueltaten aus jener Nacht. Hattest du dazu Quellen? Und wie viel davon ist künstlerische Freiheit? Hat mich übrigens an Foucaults Schilderungen der letzten Hinrichtung in Paris aus „Überwachen und Strafen“ erinnert. Da hab ich mich ähnlich gewunden. Eines gutes Zeichen also, denn ich fand, es war keine Effekthascherei.
UA: Die realen von Menschen begangenen Gräueltaten habe ich plastisch
geschildert, aus dem exakten Gegenteil von Effekthascherei. Das Eingangskapitel
hat beim Schreiben geschmerzt, und ich war mir sicher, dass manche Leser:innen
so geschockt sind, dass sie Probleme haben, weiterzulesen. Klaus Theweleit
schrieb, um die Gewalt zu verstehen, muss man sie zeigen. Ich kenne selbst
Kriegstraumatisierte, die Massaker in Ruanda erlebten. Wenn die anfangen, davon
zu erzählen, geht das weit über das hinaus, was ich in der Bluthochzeit
beschreibe.
Quellen hatte ich zum Teil aus der Bartholomäusnacht selbst, und
die zeigen, dass besonders die Gewalt gegen Frauen und Kinder extrem war, und
dass sexualisierte Gewalt gezielt gegen Hugenottinnen eingesetzt wurde. Dann
beziehe ich mich auf das „Theater des Schreckens“ der Zeit, also ritualisierte
Folter und Hinrichtungen mit genau abgestimmten Grausamkeiten, die sich über
Stunden und Tage erstreckten. Im Buch des Militärchirurgen Ambroise Paré über
Kriegsverletzungen informierte ich mich, welche Wunden die Waffen des 16.
Jahrhunderts rissen. Das waren keine Granatwerfer, sondern Töten war Handarbeit
am Körper.
Viele der handelnden Personen sind frei erfunden, bei den Taten
selbst habe ich dann plastisch ausgemalt, wie es ausgesehen haben kann, wenn
ein Mob einen Hugenotten „in Stücke reißt“ oder Hugenottinnen „die Ehre nimmt“.
Allerdings ist das Eingangskapitel zugleich symbolisch und als Parabel
aufgebaut: Die Hölle selbst ist auf die Erde gekommen, und die Teufel sind die
eigenen Nachbarn.
VV: Du hast wissenschaftlich zu Werwölfen gearbeitet. Wie kam es? Und wie
inspiriert dich deine akademische Arbeit beim Schreiben?
UA: Ich bin auf dem Land aufgewachsen,
mit Mooren und Wäldern als Spielplatz und habe bereits als Kind den schönen
Schauder zwielichtiger Vollmondnächte draußen geliebt. Meine Eltern hatten ein
Buch „Geheimnisvolle Wesen und Ungeheuer“, in dem mich unter anderem
Holzschnitte der Bestie von Gevaudan und der Hinrichtung des vermeintlichen
Werwolfs Peter Stubbe erschraken – bei gleichzeitiger Faszination für Wölfe,
die immer geblieben ist. Im Studium arbeitete ich zur Hexenverfolgung der
frühen Neuzeit und stellte fest, dass Menschen, die verbrannt wurden, weil sie
sich in einen Wolf verwandelt haben sollten, in der Forschung kaum bearbeitet
waren. Da der Apotheker von Lemgo ebenso unter dem Vorwurf der Wolfsverwandlung
hingerichtet wurde wie der Bauer Stubbe, hatte ich deutschsprachige Dokumente
als Basis. Im Hamburger Museum für Völkerkunde fand ich dann weitere Quellen.
Die akademische Arbeit inspiriert mich beim Schreiben von
fantastischen Horrorgeschichten und umgekehrt. Zum Beispiel rückt die Arbeit an
den Quellen zu Hexenprozessen vieles zurecht, was an Mythen darüber kursiert.
Umgekehrt reizen mich fantastisch-surreale Horrorgeschichten immer am meisten,
wenn ihre reale Gesellschaft gut recherchiert ist und verstanden wird.
Ich arbeite als Wissenschaftsjournalist für Geschichts- und
Museumsmagazine, und die Realgeschichte ist für fiktive Szenarien ein Ozean.
Ich habe diverse Beiträge geschrieben habe, die sich fantastisch und /
oder zu fantastischem Horror ergänzen lassen. Ich finde diese Plots nicht nur
sehr spannend, sie erleichtern mir auch gewaltig die Arbeit. Denn ich habe die
Sekundärliteratur durchrecherchiert, fremdartige Namen, Alltag, Technik, Kultur
etc sind mir vertraut und das Grundgeschehen ebenfalls. Ich habe weit mehr
Quellen griffbereit, als im Text auftauchen.
VV: Ich finde es ja immer höchstinteressant, wenn man im anthropologischen Fahrwasser zu anderen Glaubenskonzepten arbeitet und dabei erkennt, dass es auch in der Wissenschaft einschneidende Paradigmenwechsel gibt, die im Grunde genommen einer Wissenschaftsgotteslästerung gleichkommt. Wie siehst du das?
UA: Wissenschaft im modernen Sinne ist ja vor allem eine Methode, aus Trial and
Error, wobei eine Hypothese so lange gültig ist, wie sie durch eine besser
belegte verdrängt wird. Das wäre dann im besten Sinne ein Paradigmenwechsel.
Dabei bedeutet wissenschaftliches Denken immer das Wissen darum, dass es
vorläufig ist und sich ändern kann. Wir sind Kinder unserer Zeit wie die
Menschen vergangener Epochen. Natürlich hängen auch Wissenschaftler an
Gewissheiten, die sie einmal gelernt haben.
Entscheidend ist allerdings, und das kennst du aus der Anthropologie ebenso wie ich als historischer Anthropologe: Eine Verständigung über das jeweilige Konzept ist immer eine Übersetzung, die untrennbar mit eigenen Überzeugungen und Weltdeutungen einhergeht. Wenn wir uns mit der Bartholomäusnacht beschäftigen, stehen wir dem ähnlich gegenüber wie einer fremden Kultur. In der Renaissance beginnt die Säkularisierung gerade, also die Hinwendung zur irdischen Welt, statt die Perspektive auf ein Jenseits nach dem Tod zu fixieren. Oder umgekehrt: Als ich nach dem Magister durch Ostafrika reiste, lernte ich schnell, die Ratschläge der Einheimischen anzunehmen, statt ihre magischen Vorstellungen durchzuanalysieren. Sonst wäre ich kaum weitergekommen.
VV: Ich weiß da genau, was du meinst. Hast du selbst mal Dinge erlebt, die du
mit deinen Erklärungskonzepten nicht fassen konntest?
UA: Ja, häufig. Ich bin hochsensibel, und vieles, was ich gesehen und erlebt habe, kann ich heute sehr gut erklären, aber erst nach intensiver Lektüre von Neurologen wie Oliver Sachs und Anthropologen zu schamanisch-ekstatischen Zuständen, Halluzinationen und außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. Es bleiben aber Dinge, die ich nicht erklären kann. Zum Beispiel kam ich auf einer Insel im Victoria Lake an eine Quelle im Wald. Mein Magen zog sich zusammen, mir wurde schwindlig, ich hatte Probleme, das Gleichgewicht zu halten. Als ich mich entfernte, wurde es besser und verschwand. Später erzählten mir die Einheimischen, dass sie diese Stelle meiden, weil dort in Mondnächten der Nighty Dancer tanzt. Ein großer Mann, dessen Augen so verdreht sind, dass nur das Weiße zu sehen ist mit grauer Haut (in Uganda die Farbe einer Leiche). Manche solcher Erfahrungen will ich gar nicht erklären, sondern bastel sie lieber in Geschichten ein.
VV: Kenne ich ebenso aus der Ethnologie. Glaubst du an Geister?
UA: Ich denke, dass Geister innerhalb der menschlichen Psyche umhergehen, nicht außerhalb davon. Wenn sie dort nicht sorgsam behandelt werden, können sie gefährlich werden. Psychose oder Besessenheit sind letztlich nur verschiedene Begriffe für das gleiche Phänomen. Zauber wirken, aber auf das Subjekt, nicht auf das Objekt. Deswegen sind schamanische Techniken auch weltweit unabhängig voneinander entstanden: Weil sie unseren psychischen Mustern entsprechen.
VV: Du gibst auch Seminare zu Vampiren, Serienmördern, Werwölfen. Höchstspannend. Wie ist denn so deine Klientel?
UA: Vorträge und Seminare über Werwölfe, genauer gesagt über die gemeinsame Geschichte von Wolf und Mensch gebe ich ja, seit die Wölfe nach Deutschland zurückkehrten und damit die Angst- und Hassbilder ebenso wie die romantischen Projektionen. Zu diesen Vorträgen und Seminaren kommen Menschen, die sich für den Wolf interessieren und / oder begeistern. Darunter war sogar einmal ein „Furrie“, also jemand, der sich über den Wolf identifiziert und in seiner Freizeit das Verhalten von Wölfen nachahmt. Bei öffentlichen Diskussionen kommen auch Wolfshetzer, die pöbeln wollen.
Ich habe auch Lesungen zu Werwölfen, Vampiren, Zombies oder
Serienmördern vor einem Publikum aus der Gothic-Szene oder Weird Fiction
Lesern. Die machen mir am meisten Spaß.
VV: Okay, mal weg davon. Wie bist du mit dem Horror sozialisiert worden? Gab es dazu einschneidende Erlebnisse? Die ??? als Hörspiel mit Taschenlampe unter der Bettdecke oder so?
UA: ??? habe ich auf dem Schulhof gegen H. G. Francis „Ungeheuer aus der Tiefe“ getauscht. Die Faszination ist da, seit ich mich erinnern kann. Wenn ich als Kind draußen im Wald war, sprudelten die Fantasien. Nächte draußen am Lagerfeuer, Knistern in den Bäumen, rufende Eulen. Oder im Dunklen mit dem Fahrrad über die Felder nach Hause fahren, wenn die Schatten tanzen. Das habe ich schon in der Grundschule geliebt, gesucht und gefürchtet. Mit 13 sind wir dann, als es dunkel wurde, im Dorf auf den Friedhof gefahren und haben aus meinem Lieblingsbuch die Werwolfsformel vorgelesen, mit der man sich verwandeln soll. Hinter der Mauer war ein Bauernhof, und da bellte ein Rottweiler. Wir machten uns fast in die Hosen vor Angst.
VV: Ach herrlich, ich habe ähnliche Erinnerungen. Toll! Und wann hast du dir gesagt, so, jetzt schreibe ich selbst?
UA: Das wollte ich auch schon in meiner Kindheit. Ich spielte alle möglichen
Szenarien mit Playmobil durch, und als Playmobil als uncool galt im
Rollenspiel. Meine Lieblingscharaktere waren ein Überlebender des Alamo und ein
Piratenkapitän in der Karibik. Die ersten fantastischen Geschichten schrieb ich
circa mit 16.
VV: Nimmt das Schreiben einen großen Bestandteil deiner Arbeit ein? Oder kannst
du vom Schreiben leben?
UA: Meine bezahlte Arbeit ist Schreiben. Ich bin Redakteur eines Medizinportals
und verdiene meinen Lebensunterhalt als Wissenschaftsjournalist in Geschichts-,
Museums- und Tiermagazinen. Wenn ich an Projekten als Historiker arbeite, ist
das auch zu 90 % Textarbeit. Mit Fiction verdiene ich noch kaum etwas, es wäre
schön, wenn sich das ändert.
VV: Wann, wie und wo schreibst du?
UA: Als Redakteur in der Woche von morgens bis nachmittags, als fester Freier außerhalb der festen Arbeitszeiten. An Fiction zwischendurch, wenn ich Zeit habe. Meist sitze ich in meinem Arbeitszimmer am Laptop. Ich habe immer meinen Lamy-Füller und ein Notizbuch dabei, falls mir etwas einfällt. Auf Reisen schreibe ich Reisetagebuch. Viele meiner Stories haben derlei Einträge als Basis. Für Fiction setze ich mich gerne ins Cafe oder in unseren Schrebergarten. Der Garten ist für fantastische Plots ein Brandbeschleuniger - da fließt die Fantasie.
VV: Glaubst du, Horror kann auch sozialkritisch sein in unruhigen Zeiten?
UA: Sicherlich, die Bluthochzeit ist ja Sozialkritik: Zwar steckt der numinose Azatak hinter dem Grauen, doch alle Täter nehmen seine Einflüsterungen nur zu gerne an. George Romeros Zombiefilme sind eine bitterböse Kritik an den amerikanischen Verhältnissen. Horror gefällt mir, wenn er sozialkritisch ist. Das bedeutet aber nicht, dass gute Weird Fiction generell sozialkritisch sein muss. Lovecraft war ein übler Rassist, also zugleich ein Chronist des Grauens, ohne sozialkritisch zu denken. Im Gegenteil: Der kosmische Horror zeichnet sich bei Lovecraft ja gerade dadurch aus, dass er unabhängig vom Verhalten der Menschen ist.
Zum einen kann Horror sozialkritisch sein, weil der fiktive Horror uns hilft, den realen Horror zu verstehen. Zum anderen entspricht eine historisch korrekte Darstellung einer Schlacht, des Lebens eines Piraten oder auf einem Sklavenschiff etc dem, was in der Literatur als Horror bezeichnet wird – während es sich bei einem Panorama, das die Brutalitäten beiseite kehrt, um Schönfärberei handelt.
VV: Bist du
Plotter oder eher Bauchschreiber?
UA: Beides. Stimmungen, Absätze, Inspirationen innerhalb einer Geschichte stammen bei mir häufig aus Notizen oder aus Träumen, die ich schnell aufgeschrieben habe. Besonders, wenn es sich um ein historisches Szenario handelt, bin ich natürlich Plotter. Das gilt ebenso, wenn meine Geschichten in Mexiko, dem Baskenland, Indien etc spielen. Ich hasse grobe Fehler und billlige Klischees, wenn Interkulturalität, Anthropologie oder Geschichte eine Rolle spielen. Deshalb schreibe ich nicht aus dem Bauch heraus, wie es im Innern eines baskischen Bauernhauses um 1600 aussieht.
VV: Und wie gehst du vor? Also, wie findest du eine Idee und was machst du dann damit?
UA: Manchmal kommen mir Ideen, wenn ich auf Reisen bin und die Eindrücke verarbeite. Manchmal sind es Konflikte, die mich beschäftigen, von denen ich nachts träume, die ich dann fiktiv durcharbeite und in einen anderen Kontext stelle. Aber auch Menschen, die ungewöhnliche Dinge tun, sei es ein Obdachloser in unserem Stadtpark, sei es ein Bipolarer, der mit lauten Selbstgesprächen herumläuft. Inspirationen finde ich täglich. In Hannover-Linden reicht es, die Limmerstraße rauf und runter zu gehen, um Ideen zu sammeln.
VV: Okay. Magst du verraten, was wir von dir noch erwarten können in der Zukunft?
UA: Im Januar erschien mein erster Kurzgeschichtenband „Necronomicon“ bei REDRUM. Mein zweiter Erzählband erscheint in den nächsten Monaten bei Edition Schildwächter: Wer die Bluthochzeit gelesen hat, trifft in „Hugenottenblut“ und „Die Monster des Ambroise Paré“ mit König Charles, Catherine de‘Medici, Ambroise Paré und Admiral Coligny alte Bekannte. In „Die schwarze Mutter“ feiert ein Abiturient mit Hippies in Kolkata eine besondere Interpretation des Kalikultes; in „Der Schatten und die Feenkönigin“ lässt ein Mann ohne Hoffnung seinen Schatten in die Wohnung. Der führt ihn zur Feenkönigin seiner Träume.
Ein Patient
zeigt einer Sozialpädagogin, was Krieg ist. Der Haken an der Sache: Er ist seit
Jahren tot. Ein bipolarer junger Mann wird vom Geist seines narzisstischen
Vaters heimgesucht und will diesen endgültig vernichten. Am Todestag Fritz
Haarmanns wird ein Kopf mit Perücke dort gefunden, wo Haarmann die Knochen
seiner Opfer in die Leine warf. Treibt der Geist des Werwolfs die Hannoveraner
in den Wahnsinn? Marodierende Mörder der Gruppe Wagner finden in der
animalischen Territorialverteidigung der Ukraine ihre Meisterinnen. Eine
lüsterne junge Frau gerät auf Kreta in eine Feier der Satyre und Mainaden.
Dieses Jahr
möchte ich meinen zweiten Roman beenden: Eine Deutschiranerin ist wegen
paranoider Schizophrenie in der Psychotherapie. Sie meint, von einem Dschinn
verfolgt zu werden. Als ihr Therapeut zusammengeschlagen wird, stellt sich die
Frage, ob ihre Ängste berechtigt sind. Was hat es mit dem Buch ihres Vorfahren
auf sich, der ein berühmter schiitischer Lehrer war, auf den sich Mitglieder
einer Kinder entführenden Sekte im Iran ebenso berufen wie ein Rechtsextremer
im Internet, der sich „Der Schah“ nennt. Und warum schicken die iranischen
Revolutionswächter ihren Vater nach Deutschland, um dieses Buch zu bekommen?
Mein dritter
Erzählband für Edition Schildwächter ist in Arbeit: Dschingis Khans Abstammung von einem Himmelswolf und einer
Hirschkuh wörtlich genommen; eine Schweinekirche in Butscha, eine als Hexe
verfolgte Baskin, die sich von einer Klippe stürzen will und stattdessen von
der Sturmgöttin nach Neufundland geweht wird. Noah erlebt die zweite Sintflut
zu Sylvester, eine Weihnachtsfeier mit Moorgeistern, die Geister versklavter
Kinder im Hafen von Liverpool – da kommt eine Menge.
VV: Sehr, sehr spannend! Vielen Dank, dass du da warst! Ich hoffe, du hattest Spaß!
UA: Ich habe zu danken.
Bullets (Wie aus der Pistole geschossen …)
VV: Vegan, Vegetarisch oder Carnivor?
UA: Eingeschränkter Carnivor, der seinen Fleischkonsum verringert.
VV: Warum?
UA: Weil es keinen Grund für einen immensen Fleischverzehr gibt, aber sehr viele dagegen.
VV: Eine angebliche Superkraft von dir?
UA: Ich soll gut reden, reisen und entdecken können (Aussage meiner Frau).
VV: Eine Farbe, die du magst und eine, die du nicht magst?
UA: Schwarzgrün liebe ich, es gibt keine Farbe, die ich generell nicht mag.
VV: Wenn du durch die Zeit reisen könntest, wohin würde es gehen?
UA: Da fallen mir zahlreiche Orte und Zeiten ein. Wenn ich mich für eine entscheiden müsste, dann in in das pleistozäne Nordamerika.
VV: Warum?
UA: Um die ausgestorbene Megafauna zu sehen: Säbelzahntiger, Dire Wolves,
Kurzschnauzenbären, Kolumbianische Mammuts, Riesenfaultiere
VV: Beste Volksweisheit, bester Spruch über Wölfe?
UA: Wolf denkt immer zuerst an seine Familie und zuletzt an sich. Wolf gewinnt alle Kämpfe in seinem Leben, außer einem, und in dem stirbt er.
VV: Das könntest du fast immer essen?
UA: Djujde Kabab
VV: Lagerfeuer oder Kamin?
UA: Lagerfeuer
VV: Ein völlig überschätzter Film?
UA: Sämtliche Folgen der Twilight Saga. Besonders traurig deswegen, weil man
beim Lesen guter Vampir- und Werwolfsgeschichten diesen Schrott im Kopf hat.
VV: Drei Eissorten?
UA: Walnuss, Pistazie, dunkle Schokolade mit Stücken
VV: Du könntest ein Horror-Setting erleben, welches wäre das?
UA: Überleben vorausgesetzt, Jurassic Park
VV: Warum?
UA: Weil ich Dinosaurier mag
VV: Horror ist für mich …
UA: Ein Genre, das menschliche Ängste, Abgründe und Konflikte symbolisch verdeutlicht und hilft, diese zu verarbeiten.
VV: Vielen Dank!
Meinem Glückwunsch an Dr. Utz Anhalt! Da ist doch mal ein schöner Erfolg. Ich hoffe, das Redrum in seine nVeröffentlichungen nun auch etwas beschleunigt wird. Ich will schließlich auch meine Chance bekommen!!
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